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Das Leben im Flüchtlingslager auf der Insel Samos – Ein Lagebericht über die tatsächlichen Verhältnisse von Hans Mörtter

Das Flüchtlingslager auf Samos gleicht mit seinem Stacheldrahtzaun und den Containern einem Hochsicherheitstrakt, Foto: Hans Mörtter
Das Flüchtlingslager auf Samos gleicht mit seinem Stacheldrahtzaun und den Containern einem Hochsicherheitstrakt, Foto: Hans Mörtter

Die griechische Insel Samos lädt zum Träumen ein. Touristen verbringen hier ihren Urlaub mit Sonne, Meer und Strand. Und dann sind da zahlreiche Geflüchtete, die sich ein Leben in Sicherheit und Freiheit erträumen. Als Hans Mörtter die Insel das erste Mal besuchte, war das Flüchtlingslager völlig überfüllt, die Hütten notdürftig zusammengezimmert und überall liefen Ratten herum. Dann wurde ein CCAC „Closed Controlled Access Centre“ erbaut, das als Vorzeigelager präsentiert wird. Es handelt sich dabei um ein Containerdorf, das von hohem Stacheldraht umgeben ist und überwacht wird. Eine Verbesserung ist das allemal, aber hinter der geordnet wirkenden Fassade, sind viele Herausforderungen noch nicht gelöst.

Hans Mörtter spricht in diesem Interview von mehreren Problemfeldern, bei denen Hilfe von außen nötig ist und von einigen Organisationen auch geleistet wird, darunter die Skills Factory, die Samos Volunteers und Ärzte ohne Grenzen. Die Bewohner (um das Wort „Insassen“ zu vermeiden) stammen aus Ländern, in denen sie gefährdet sind, darunter Palästinenser, die dem Gaza-Streifen entkommen konnten. Nun leben sie wie Schwerverbrecher in einem Hochsicherheitstrakt und werden vielfach sich selbst überlassen. Hans Mörtter hat genau hingeschaut und stellt die schon bestehenden Hilfsangebote vor.

von
Hans Mörtter & Team
Die ersten Aktionen für das Flüchtlingslager auf Samos

Hans sucht das Glück: Wie kam es zu den Kontakten auf Samos?

Hans Mörtter: Der Impuls kam durch das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos, das am 8. September 2020 abbrannte. - Im Lager Vathy auf Samos waren 24.000 Menschen eingepfercht worden, was eine haltlose Situation war und ich konnte nicht länger still halten. Christos Koutsouras (das ist der Künstler, der das Wandbild der Lutherkirche geschaffen hat) stammt von der Insel Samos und hatte mich immer wieder auf deren Lage aufmerksam gemacht. Dann traf ich Daniela Neuendorf, die auf Samos eine NGO gegründet hatte, und bin tatsächlich mit ihr dorthin gereist. 

Hans sucht das Glück: Das war 2020 mitten in der Zeit des Lockdowns.

Hans Mörtter: Ja, genau. Wir haben das Lager heimlich besuchen müssen. Normalerweise kommt man da nicht hinein, aber wir haben einen Trick gefunden. Wir hatten einen einheimischen Führer und wurden von den Bewohnern beschützt, denn die wussten genau, wann die Patrouillen kamen und wo die Überwachungskameras standen. Wir hatten mit Cosima eine WDR-Journalistin dabei, die für WDR aktuell dort gedreht hat. Das war alles unter geheimen Bedingungen. Es war schon etwas abenteuerlich und mein erster Bericht aus dem Lager.

HsdG: Wie oft waren Sie seitdem dort?

Hans Mörtter: Jedes Jahr, ich fühle mich da irgendwie verbunden.

HsdG: Irgendwann war das alte Lager „Vathy“ mit den über 20.000 Geflüchteten leergeräumt. Was haben Sie davon mitbekommen?
 

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Die Hinterlassenschaften des geräumten alten Lagers, Foto: Hans Mörtter

Hans Mörtter: Die Menschen waren im Jahr 2022 in einer Blitzaktion auf das Festland gebracht worden. Kurz nach der Räumung hatten Christos Koutsouras und ich heimlich in der Sperrzone mit Fotos das geräumte Lager dokumentiert. Überall lagen noch Schuhpaare herum, ebenso Plüschtiere und Malzeug von Kindern. Da waren 22.000 Menschen evakuiert worden und gut 2000 Menschen wurden in das neue Lager auf Samos verfrachtet. - Die heutigen 4000 Menschen kommen daher, dass immer wieder viele Geflüchtete ankommen. Diese Überbelegung ist nicht konstant, sondern ergibt sich phasenweise immer wieder für ein paar Wochen.

HsdG: Trotzdem brauchen die Geflüchteten immer noch Unterstützung. Das hatte auch einmal eine große Kleidersammelaktion hier in Köln zur Folge.

Hans Mörtter: Ja, wir hatten eine Sammelaktion vorwiegend mit Winterkleidung auf die Beine gestellt und zwei Transporter mit drei ehrenamtlichen Fahrern hingeschickt. Es gab dort mittlerweile ein Vorzeigelager mit einem Containerdorf hinter hohem Stacheldraht, das sich „Closed Controlled Access Centre“ (CCAC) nennt. Obwohl es nur für rund 2100 Menschen angelegt ist, leben da aber regelmäßig um die 4000 Geflüchtete. Das funktioniert also nicht richtig und die Leute bekommen keine Winterkleidung. Auf Samos wird es ab Dezember aber richtig kalt. Die Leute sind gezwungen, sich selber irgendwie warm zu halten, weil sich offiziell niemand darum kümmert. Da gibt es aber NGOs, die sich da einsetzen, wie das Warehouse https://www.samosvolunteers.org/logistics-and-distributions-coordinator, das professionell eine große Kleiderkammer betreibt. Die hatten wir dann mit ganzen Ladungen von Kleidung ausgestattet. Dazu haben wir auch noch extra Geld gegeben, damit Schuhe davon gekauft werden konnten.

HsdG: Die Geflüchteten mussten im Winter mit Plastikschlappen herumlaufen.

Hans Mörtter: Ja, die hatten kein anderes Schuhwerk. Im Dezember 2024 haben wir 11.000 Euro gespendet, damit in Griechenland Kleidung besorgt werden konnte.


Die medizinische Versorgung und drei Problemfelder

HsdG: Wie sieht das mit der medizinischen Versorgung aus?

Hans Mörtter: Ein Arzt für alle.

HsdG: Ein einziger Arzt für 4000 Menschen?

Hans Mörtter: Ja. Dafür sind aber die Ärzte ohne Grenzen aktiv. Die haben sich lange geweigert, in das neue Lager hineinzugehen, weil sie das menschenunwürdige System nicht unterstützen wollten. Sie hatten dann vor dem „Gefängnis“ große Zelte aufgebaut und die Leute dort versorgt. Dann merkten sie aber, dass das nicht reicht und sind seit letztem Jahr im Lager drin, weil sie da direkten Zugang zu allen haben. Das Hauptproblem ist die Krätze, weil die ihre Kleidung nicht sauber halten können. Die Geflüchteten werden ein einziges Mal mit Waschmittel ausgestattet, danach müssen sie selber gucken. Dann versagt auch regelmäßig die Wasserzufuhr.

HsdG: Wenn die so gut wie kein Geld haben, wovon sollen die dann Waschmittel kaufen?

Hans Mörtter: Das ist ihr Problem.

HsdG: Ach so. Danke.

Hans Mörtter: Die bekommen offiziell auch nur ein einziges Mal Taschengeld.

HsdG: Da steht der Kauf von Waschmittel wohl nicht ganz oben auf der Liste. Gibt es denn in der Wäscherei der Skills Factory das Waschpulver umsonst?

Hans Mörtter: Ja.

HsdG: Die Wäscherei reicht aber nicht für 4000 Leute.

Hans Mörtter: Da kommen auch nicht 4000 Leute. Aber die, die kommen, wissen, wie die Maschinen bedient werden, weil da Menschen sind, die sich darum kümmern. Das Ganze hat auch eine Aufenthaltsqualität, weil sie aus dem Lager herauskommen.

HsdG: Ach so, die Wäscherei ist nicht im Lager.

Hans Mörtter: Nein, in der Stadt Samos. Die ist 12 Kilometer vom Lager entfernt.

HsdG: Die müssen mit der Wäsche 12 Kilometer laufen?

Hans Mörtter: Es gibt Leute, die laufen, auch mit dem, was sie für andere mit eingekauft haben. Andere benutzen den Bus, also die, die bezahlen können. Eine Fahrt kostet 1,50 €, glaube ich.

HsdG: Das ist doch ein „Vermögen“, wenn man so gut wie kein Geld hat.

Hans Mörtter: Ja, deswegen gehen viele auch zu Fuß. Das sind hin und zurück 24 Kilometer.

HsdG: Befindet sich die Skills Factory im Lager?

Hans Mörtter: Nein, nein. Die ist auch in der Hauptstadt. Die Skills Factory hat auch eine hohe Aufenthaltsqualität. Die können sich beim Friseur die Haare waschen und schneiden lassen, es gibt sehr leckeres Mittagessen.

 

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Die Skills Factory bietet Grundausbildungen zum Friseur an, Foto: Hans Mörtter

HsdG: Das müssen die nicht bezahlen.

Hans Mörtter: Nein, das wird von Spenden finanziert.

HsdG: Das Fahrgeld wird aber nicht gesponsert.

Hans Mörtter: Einige haben das Geld. Sie machen Hilfsarbeiten, z. B. auf dem Bau, verdienen da ein bisschen.

HsdG: Dann ist das Lager kein ganz so schlimmes „Gefängnis“. Wer eine Art Mission hat, der kann es durchaus verlassen.

Hans Mörtter: Der kann morgens ab 8.00 Uhr heraus, muss aber abends um halb zehn wieder zurück sein, weil er sonst nicht mehr hinein kommt.

HsdG: Es wird ja irgendwann auch dunkel.

Hans Mörtter: Aber nicht im Lager. Da ist die ganze Nacht volle Beleuchtung. Totale Kontrolle.

HsdG: Was erwarten die denn, dass die Geflüchteten da so machen?

Hans Mörtter: Nichts.

HsdG: Vermutlich sind die Container ähnlich, wie sie ab 2021 nach der Flutkatastrophe bei uns aufgestellt wurden. Da sind zwei oder vier Stockbetten drin, ein kleiner Tisch und ein Stuhl und mehr nicht. Zum Aufenthalt laden die nicht ein.

Hans Mörtter: So ähnlich sind die auf Samos auch. Aber in dem Containerlager gibt es auch Aufenthaltsräume, und da schlafen etliche auf dem Boden, weil die Kapazitäten in den Containern nicht ausreichen.

HsdG: Die Betten sind klein, da kann ganz man maximal noch ein Kind mit unterbringen, aber man hat eine Tür, die man schließen kann.

Hans Mörtter: Es gibt auch Duschen und Toiletten. Und keine Ratten. Hygienisch gesehen ist das eine Verbesserung, aber auch nicht ganz, weil die Leute im Lager zu wenig Gelegenheit haben, ihre Sachen zu waschen. Es gibt insgesamt drei Problemfelder: die Krätze, Mangelernährung, weil die Ernährung sehr einseitig ist und manchmal angeschimmeltes Essen verteilt wird. Dann ist die Depression weit verbreitet, bis hin zur Suizidgefahr.

HsdG: Und die Wasserversorgung ist eingeschränkt.

Hans Mörtter: Zu viele Leute, zu wenig Kapazitäten und manchmal fließt das Wasser nicht. Dann kommen keine Tankwagen. Das Trinkwasser ist übrigens auch rationiert. Maximal anderthalb Liter pro Tag. Das ist zu wenig.

HsdG: Das ist aus medizinischer Sicht nicht vertretbar.

Hans Mörtter: Das ist zu wenig vor allem, wenn es sehr heiß wird.

HsdG: Je nach den traumatischen Erlebnissen, die die Geflüchteten hatten, sind nicht alle in der Lage, das Lager zu verlassen und tagsüber zu arbeiten.

Hans Mörtter: Das gilt leider wirklich nur für einen Teil. Viele haben gar nicht die Kraft dazu. Es gibt allerdings in den ehemaligen Zelten von Ärzte ohne Grenzen vor dem Lager von den Samos Volonteers Freizeitangebote: Schach oder Ball spielen, oder einfach entspannen und Tee trinken. Es gibt Einführungen in die Nutzung von Computern und Englischunterricht, weil das als Weltsprache vorteilhaft ist.
 

Die Bedeutung von Handys und Beschäftigung

HsdG: Haben Sie einen Überblick, welche Nationalitäten da vorwiegend untergebracht sind?

Hans Mörtter: Viele Palästinenser aus dem Gaza-Streifen, die Angst um die Leute haben, die da geblieben sind. Dann noch Syrer, Iraker, Afghanen und Afrikaner. Die kommen über die Türkei. Nach Istanbul kann man z. B. ohne Visum fliegen. Dann gehen sie zur Westküste und setzen nach Samos über oder zu den Inseln, die nahe der türkischen Grenze gelegen sind. Zwischen der Türkei und Samos liegen nur ein paar Kilometer, allerdings gibt es dazwischen sehr gefährliche Strömungen. Da sterben auch immer wieder Leute, aber trotzdem sind die Chancen da größer als an anderen Orten.

HsdG: Dass die Geflüchteten sich in seelischen Ausnahmezuständen befinden, ist ganz klar. Und Ärzte ohne Grenzen, die sich zuvor geweigert hatten, das Lager zu betreten, sind jetzt vor Ort.

Hans Mörtter: Die psychologische Betreuung findet jetzt im Lager statt, damit sie alle erreichen. Die Hemmschwelle, sich an jemanden zu wenden, ist da geringer.

HsdG: Die sind ja auch von ihren Familien abgeschnitten. Deswegen haben ihre Handys eine so zentrale Bedeutung.
 

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Die Skills Factory bietet eine Reparaturwerkstatt für ihre Handys an, Foto: Hans Mörtter

Hans Mörtter: Ohne Handy können die nicht leben. Die brauchen es, um Kontakt zu ihren Familien zu halten. Die Skills Factory, die ich auch unterstütze, hat eine Handy-Werkstatt eingerichtet. Ich hatte mir vor ein paar Jahren eingebildet, dass ich hier in Köln ohne Probleme ein paar tausend Handys sammeln könnte, das funktionierte aber überhaupt nicht. Wir haben nur ein paar einzelne bekommen und ein größeres Kontingent von einer Firma. Aber dass das so schlecht geht, hätte ich nicht gedacht. Da gibt es doch genug Leute, die sich ständig neue Handys kaufen. Aber die geben ihre alten nicht her. Meine Grundidee war es, Tausende von Handys zu sammeln, damit wir über NGOs, wie die Skills Factory, auf Samos und die ganzen Lager entlang der Küste mit Handys zu versorgen. Wenn jeder Kölner sein altes Handy abgeben würde - das darf allerdings nicht älter als fünf Jahre sein - wäre das alles kein Problem.

HsdG: Sie erwähnten in dem Artikel, der unten verlinkt ist, dass einige der Geflüchteten bei ihren Arbeitgebern schlafen dürfen. Da haben sich vermutlich menschliche Kontakte entwickelt, auch wenn das die Familie nicht ersetzt.

Hans Mörtter: Das hat sich in letzter Zeit tatsächlich geändert. Vor zwei Jahren noch hat die Inselbevölkerung die Geflüchteten abgelehnt, weil sie den Tourismus gefährdet sahen. Jetzt ist das Lager auf dem Land, also aus dem unmittelbaren Blickfeld heraus. Seit dem letzten Jahr gibt es auch einen neuen Bürgermeister, der viel offener ist, und das merkt man. Die Inselbewohner brauchen Arbeitskräfte für Handwerk, Bau und Landwirtschaft. Ich weiß von Gastronomen, dass die Geflüchteten richtige Arbeitsverträge und richtiges Gehalt, also keinen „Sklavenlohn“ bekommen, und eben auch Unterkünfte. Das heißt, dass die abends nicht im Lager zurück sein müssen. Das Ganze geht schon nach drei Monaten Aufenthalt. Die Gastronomen, die diese Leute angestellt haben, sind total zufrieden.

HsdG: Die Brocken griechisch, die sie brauchen, haben die sicher schnell gelernt.

Hans Mörtter: Genau, das ist learning by doing. Das geht dann ohne gesonderte Sprachkurse. Eine klar umschriebene und begrenzte Arbeit. Das ist ein Wechsel, der auch für uns interessant ist. Wir überlegen mit dem Präsidenten der Handwerkskammer, wie wir in Köln eine schnelle Ausbildung bekommen, wofür es schon Ideen gibt.

HsdG: Auf einer Insel ist das vermutlich leichter einzurichten, wie in unserer Bürokratie.

Hans Mörtter: Das ist bei den Griechen genauso. Die haben auch auf der Insel ihr Migrationsministerium und da ist es ganz klar, dass die die ersten drei Jahre nicht arbeiten dürfen. Es gibt ein regelrechtes Arbeitsverbot. Aber der Bürgermeister von Samos hat es geschafft, Ausnahmen zu konstruieren, wonach die es dürfen. Das beschleunigen die Griechen jetzt, denn die brauchen dringend Arbeitskräfte.

HsdG: Ja. Wir alle brauchen Fachkräfte. Das liegt am demografischen Wandel überalterter Gesellschaften. Dann kommen die „Fachkräfte“ in Scharen und dürfen nicht arbeiten.

Hans Mörtter: Die werden in vielen Bereichen gebraucht, bis hin zu den Kölner Verkehrsbetrieben, die keine Fahrer hat.

HsdG: Der politische Wille zu einer Anpassung der Asylgesetzgebung ist derzeit aber nicht erkennbar.

Hans Mörtter: Der ist nicht da, und trotzdem hat der Bürgermeister von Samos sich durchgesetzt. Warum sollte man das anderswo nicht auch so machen?

HsdG: Jetzt kommen seit 2015 massenweise Migranten ins Land und der Fachkräftemangel ist immer noch nicht behoben. Die bekommen hier nicht einmal durchgehend Sprachunterricht.

Hans Mörtter: Davon ist man abgekommen. Es gibt rudimentäre Sprachkurse, alles andere ist learning by doing. Die Sprachkurse sind auf den Arbeitsbereich abgestimmt.

HsdG: Wie sieht das bei den Kindern im Lager aus?

Hans Mörtter: Das ist schwierig. Samos bietet Schulunterricht an, aber die Kinder müssten mit dem Bus in die Hauptstadt gebracht werden.

HsdG: Die haben im Lager keine Schule?!

Hans Mörtter: Es gibt im Lager keine Schule. Nein.

HsdG: (…) Wie viele von den 4000 Geflüchteten sind Kinder?

Hans Mörtter: Ungefähr ein Drittel. Wobei es da schon die Priorität gibt, dass unbegleitete Frauen mit Kindern so schnell wie möglich aufs Festland gebracht werden. Die bleiben nicht so lange da.

HsdG: Die Kinder wachsen da also ohne Schulunterricht auf. Das ist insofern auch schwierig, weil sie aus unterschiedlichen Kulturen stammen und verschiedene Sprachen sprechen. Die Aussichten für einige Erwachsene sind da besser.

 

Anerkennung der Grundausbildung durchsetzen

Hans Mörtter: Die Skills Factory führt Grundausbildungen z. B. für Friseure durch. Und die es bereits gelernt haben, leiten neue Anfänger wieder an. Genauso werden Hausmeister in handwerklichen Fertigkeiten ausgebildet. Die Schneiderei und die Küche bilden auch aus. Die Absolventen bekommen dann Zertifikate für die Grundausbildung und damit könnten europäische Staaten ihren Bedarf anmelden. Wenn der gedeckt werden kann, können sich die Geflüchteten eine Existenz außerhalb eines Lagers aufbauen.

HsdG: Werden denn diese Grundausbildungen im Ausland anerkannt?

Hans Mörtter: Dafür müssen wir uns noch einsetzen.

HsdG: Zusammenfassend steht also die Lösung folgender Probleme an: Es müssen Tausende von Handys besorgt werden, die nicht älter als fünf Jahre sein dürfen, und die Anerkennung von Grundausbildungen muss erreicht werden.

Hans Mörtter: Die Verteilung der Handy würde über die Vernetzung der NGOs und der Ärzte ohne Grenzen erfolgen, die ein ausgedehntes Verteilungssystem haben und überall an die Lager herankommen. Ich hatte damals wirklich geglaubt, dass es leicht wäre, in Köln ein paar tausend Handys zu organisieren, aber es waren nur 200. Das war enttäuschend.

HsdG: Nun ist die Stimmung in Bezug auf Migranten in Deutschland und Europa nicht gerade positiv, weil es Anschläge und andere Verbrechen gab, die mit Migranten in Verbindung stehen. Das mag ein verschwindend geringer Prozentsatz sein, aber das ist sehr stark im Bewusstsein einer zu Recht besorgten Bevölkerung verankert. Aber wie wird man denen gerecht, die als Schützenswerte tatsächlich unsere Unterstützung brauchen?

Hans Mörtter: Durch entsprechende Presseberichte von Migranten, die hier erfolgreich integriert sind, wie das z. B. der Kölner Stadtanzeiger macht. Das ist wichtig, darüber zu berichten, denn das ist die Mehrheit. - Unsere Idee, heimatlos gewordene Menschen mit dieser Grundausbildung hier in Arbeit zu bringen, wäre ja auch ein Erfolgsbericht.

HsdG: Da würden wieder Ausländer Tätigkeiten übernehmen, die Deutsche eher nicht annehmen würden.

Hans Mörtter: Ja. Das ist in der Tat so und auch nicht gerecht. Bei den Abfallwirtschaftsbetrieben z. B. arbeiten überwiegend Ausländer, die werden aber gut bezahlt.

HsdG: Wenn es die nicht gäbe, hätten wir Ungezieferplagen und sonstiges. In der Zeit des Lockdowns waren die systemrelevant und fuhren. - Also Handys besorgen und die Grundausbildungen anerkennen lassen, sind die anstehenden Aufgaben.

Hans Mörtter: Und Spenden sammeln, damit wir Kleidung besorgen können. Wir haben für die Schneiderei Stoffballen gekauft, damit die davon Unterwäsche nähen können. Unterwäsche kann man nicht second hand anbieten.
 

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Die Skills Factory bietet Grundausbildungen zum Schneidern an, Foto: Hans Mörtter

HsdG: Wenn das alles klappen sollte, wäre Samos aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Hans Mörtter: Stimmt. Aber es könnte ein Vorzeigeprojekt werden, so wie die EU bei Samos vom Vorzeigelager redet. D. h. wir kümmern uns hier um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zum Vorzeigen.

HsdG: Sie haben als Pfarrer den 1980er Jahren Aktionen initiiert, wie den Karnevalsgottesdienst und die Trauung eines homosexuellen Paares. Das waren damals Skandale und ist heute selbstverständlich. Man muss manchmal nur den ersten Schritt wagen.

Hans Mörtter: Wir würden hier mit ein paar Leuten anfangen, die genauso behandelt werden, wie die das auf Samos machen, indem sie in Ausbildung und Arbeit gebracht werden. Da gibt es einen Weg, das kommunal zu schaffen.

HsdG: So so. Sie wollen also Spenden sammeln in Zeiten, die wirtschaftlich herausfordernd sind, Sie wollen den Menschen ihre alten Handys „wegnehmen“ und einige Migranten mehr hier ansiedeln.

Hans Mörtter: (lacht) Genau. Die Spenden sind wichtig, weil wir hier keine Kleidung mehr sammeln und nach Griechenland transportieren. Die soll vor Ort besorgt werden und die Einnahmen in die dortige Wirtschaft einfließen. Alles andere geht aus dem Gespräch hervor.

HsdG: Nun scheint es auf Samos auch menschliche Engel unter den Griechen zu geben, die sich für die Geflüchteten einsetzen.

Hans Mörtter: Die Vorfahren der heutigen Griechen haben teilweise auch die Erfahrung als Geflüchtete gemacht, als sie nach dem 1. Weltkrieg aus der Türkei vertrieben wurden. Das ist ein Teil ihrer Geschichte. Deswegen können sie den heutigen Geflüchteten mitunter durchaus empathisch begegnen. Die damaligen Griechen hatten um die 200 Jahre lang in der Türkei gelebt.

HsdG: Da ist es verständlich, dass die Leute sensibler sind. Es gibt auch viele deutsche Familien, die nach dem 2. Weltkrieg die Erfahrung von Flucht und Vertreibung machen mussten. Da ist das bei vielen Hochbetagten noch erinnerte Geschichte. - Was gibt es sonst noch zu erwähnen?

Hans Mörtter: Handys können an der Lutherkirche im Büro von Südstadt Leben abgegeben werden. Das ist der Martin-Luther-Platz Nr. 4, jeden Mittwoch von 16.00 bis 18.00 Uhr.

HsdG: Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg.
 

Das Interview führte Helga Fitzner am 3. April 2025
 

Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet für Geflüchtete Grundausbildungen zum Friseur an, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet für Geflüchtete Grundausbildungen zum Friseur an, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet Grundausbildungen im Schneiderhandwerk an, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet Grundausbildungen im Schneiderhandwerk an, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet eine Handy-Werkstatt für Geflüchtete an, Foto: Hans Mörtter,  Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet eine Handy-Werkstatt für Geflüchtete an, Foto: Hans Mörtter, Hans Mörtter
In der Hauptstadt Samos können Geflüchtete kostenfrei ihre Wäsche waschen, Foto: Hans Mörtter
In der Hauptstadt Samos können Geflüchtete kostenfrei ihre Wäsche waschen, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet Kochkurse für Geflüchtete an, Foto: Hans Mörtter
Die Skills Factory auf der Insel Samos bietet Kochkurse für Geflüchtete an, Foto: Hans Mörtter
Im Flüchtlingslager auf Samos gibt eine Ehrenamtliche Englischunterricht, Foto: Hans Mörtter
Im Flüchtlingslager auf Samos gibt eine Ehrenamtliche Englischunterricht, Foto: Hans Mörtter