
Hans Mörtter spricht im Interview über das Menschensinfonieorchester, das im Jahr 2024 einige Erfolge zu verzeichnen hatte.
Hans sucht das Glück e.V.: Wie ist der aktuelle Stand der Dinge bezüglich des Menschensinfonieorchesters?
Hans Mörtter: Ich freue mich sehr darüber, wie sich das MSO in den letzten Jahren entwickelt hat. Es ist professionell und gut geworden. Deshalb konnte es im Oktober 2024 auch zu einem kurzen Auftritt in der Kölner Philharmonie kommen, was für ein derart spezielles Orchester bemerkenswert ist.
HsdG: Das MSO wurde von den Veranstaltern übers Internet gefunden und für den Auftritt bei der Schönberg-Gala ausgesucht.
Hans Mörtter: Wir haben vor einigen Jahren dafür gesorgt, dass das MSO eine eigene und professionelle Webseite bekommt. Das war eine richtige und wichtige Investition. Wenn das Menschensinfonieorchester spielt, ist es immer voll. Das war vor ungefähr zwölf Jahren noch nicht so. Es hat sich herumgesprochen, dass die richtig gut geworden sind.
HsdG: Die Anfangsjahre waren schwierig, aber seitdem hat sich das MSO von einem Orchester mit obdachlosen Straßenmusikern zu einer Gruppe entwickelt, die aus Bürgerlichen, aber auch Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Besonderheiten besteht.
Hans Mörtter: In den ersten zehn Jahren waren Obdachlose in der Band, und die waren das eigentliche Rückgrat. Der Erwin, der „Frosch“ und der Fritz waren eine starke Fraktion. (Erwin Grothe und Jürgen Baack sind mittlerweile verstorben, der Fritz ist in der Bauwagenkolonie noch aktiv). - Nach der ersten CD kamen einige auf die Idee, mit dem MSO Geld zu verdienen. Das hätte aber für Druck und Erwartungshaltung gesorgt, was dem MSO als einen Raum entgegengewirkt hätte, in dem sich Leute unter geschützten Bedingungen in ihrem eigenen Tempo entwickeln können. Die Leute, die zu der Zeit obdachlos waren, haben zu Alessandro Palmitessa gestanden. Nur deswegen gibt es das MSO noch, weil es die Solidarität der Obdachlosen gab. Alessandro ist ein eigenständiger Berufsmusiker und kann nur einmal in der Woche mit dem MSO proben. Innerhalb dieses Rahmens liegen auch die Möglichkeiten.
HsdG: Dadurch ist das MSO einzigartig geblieben.
Hans Mörtter: Ich habe im Kopf, was mir einer von den Obdachlosen damals erzählt hat: „Wir sind hier kein Therapieprojekt, wir sind keine Selbsthilfegruppe, wir machen geile Mucke“. Das ist ein toller Spruch. Hier werden die Mitglieder mit Herausforderungen und Handicaps eben nicht für ein bürgerliches Leben tauglich gemacht. Was die Menschen in dieser Gruppe verbindet, ist ihre Unterschiedlichkeit, die Freude an der Musik, dem Liedermachen und den Auftritten.
HsdG: Die dürfen und sollen sogar so bleiben, wie sie sind!?
Hans Mörtter: Ja. Ihnen wird kein externes Konzept übergestülpt, die Musik und zum großen Teil selbst geschriebenen und komponierten Lieder entstehen aus der Gruppe und deren vereinigten Fähigkeiten heraus. Jeder lebt dabei auf seine Weise, aber sie sind eng verbunden in den Proben und Auftritten. Es ist natürlich Wahnsinn, was für eine Leistung der Alessandro da erbringt. Der ist sehr zielstrebig und bleibt dran. Die Geduld, auch die Liebe und die Beharrlichkeit von Alessandro haben das Ganze am Leben erhalten. Und weil er nicht die Geduld verloren hat, sind die auch so weit gekommen, wie sie heute dastehen.
HsdG: Dabei ergibt sich immer wieder das Thema der Finanzierung. Wie sieht es da aktuell aus?
Hans Mörtter: Wir haben einen wunderbaren Sponsor, den Dr. Peter Deubner mit seiner Deubner-Stiftung, die nach ihrer Satzung genau die Menschen unterstützt, die zum Orchester gehören. Herr Deubner ist ein ganz treuer Mensch, der die Qualität und das Besondere vom MSO erkannt hat. Ich weiß nicht, ob es das Orchester ohne ihn noch geben würde, weil er immer wieder mal in die Bresche gesprungen ist, wenn es ganz eng war. Er ist uns in Freundschaft verbunden, das ist viel mehr, als einfach Geld zu geben. Dann gibt es noch unterschiedliche Einzelspenden, die wir immer wieder bekommen, aber der größte Teil wurde immer vom Südstadt Leben e. V. getragen. Das MSO ist etwas ganz Kostbares und das schätzen wir als solches auch.
HsdG: Seit Ihrer Entpflichtung als Pfarrer entfallen leider die Spenden aus den gelegentlichen Kollekten innerhalb eines Jahres und mittlerweile findet auch der kleine Weihnachtsmarkt nicht mehr im Atrium der Lutherkirche statt. Damit fallen die Einnahmen aus diesen Quellen weg. Wie geht man damit um?
Hans Mörtter: Das müssen jetzt weitgehend der Südstadt Leben e. V. tragen und mein eigener Verein „Hans sucht das Glück“, der vor rund einem Jahr ins Leben gerufen wurde. Nächstes Jahr wird es irgendwie weitergehen. Das machen wir einfach. Aber es ist endlich, weil irgendwann auch mein Leben endlich ist. Solange es Spenden gibt, ist das in Ordnung. Wenn da nichts wäre oder nichts mehr käme, ginge es halt nicht weiter.
HsdG: Sie sind da in all den vielen Jahren auch nie müde geworden!?
Hans Mörtter: Ich kann nur das sagen, was ich immer sage. Ich sehe im MSO auch Botschafter. Das ist eine extreme Unterschiedlichkeit. Oder wie Alessandro das gesagt hat: „Es ist ein diverses Orchester“. Das wurde gegründet, da gab es den Begriff in dieser Form noch gar nicht. Aber das Orchester gab es in dieser Zusammensetzung schon. Es ist faszinierend zu sehen, wie Menschen miteinander funken, wie sie miteinander umgehen, bei all der ausgeprägten Verschiedenartigkeit. Das funktioniert und es macht ihnen Spaß, miteinander Musik zu machen.
HsdG: Alle Orchester bestehen aus unterschiedlichen Persönlichkeiten, die sich aber dem gemeinsamen Ziel unterordnen. Das ist beim MSO etwas anders.
Hans Mörtter: Das ist ja das Paradox. Jeder ist anders, jeder einzelne Mensch in dieser Band ist anders, und trotzdem sind sie gemeinschaftlich, wie Alessandro sagen würde, ein gemeinsamer Klangkörper. Sie sind vereint, in der Musik, die sie machen, und bei den Auftritten. Da spürt man eben auch, wie die verbunden sind. Es ist eine Einheit entstanden, die eigentlich in unserer Gesellschaft gar nicht möglich ist. Das ist auch eine Ermutigung, dass ein Miteinander im Anderssein funktioniert. Sie müssen keine Angst haben vor dem, der anders ist. Sie müssen ihn noch nicht einmal verstehen. Die Verbindung entsteht durch die Musik.
HsdG: Das Anderssein wird also nicht als Gefahr wahrgenommen.
Hans Mörtter: Das ist ja der Beweis, dass sie keine Gefahr sind. Gesellschaftlich wird immer suggeriert, dass die Fremden gefährlich seien. Die müssen unsere Kultur annehmen. Wenn sie die nicht annehmen, dann gehören sie nicht dazu. In dem Orchester existieren parallel verschiedene Kulturen und Ethnien. Ohne dass irgendeiner sich verbiegen muss. Jeder bleibt, wie er ist.
HsdG: Es wird kein Anpassungsdruck ausgeübt. Dadurch kann sich jeder entfalten und sich mit seiner Besonderheit einbringen. Dem MSO wird dafür der Raum geöffnet, nicht nur der Probenraum, sondern auch metaphorisch.
Hans Mörtter: Und bei den Zuhörern ist das genauso. Das ist ja das Irre. Viele der Lieder, vor allem in der Komposition, sind einzigartig, weil du merkst, dass da verschiedene Kulturen miteinander verschmelzen. Das ist nicht nur eine „deutsche“ Musik.
HsdG: Also Weltmusik.
Hans Mörtter: Ja, und die lebt von der Unterschiedlichkeit der Teilnehmenden und damit ist das Anderssein eine Bereicherung.
HsdG: Vielen Dank für das Interview.
Das Gespräch führte Helga Fitzner im November 2024.