
Seit der letzten Aktualisierung zum 20. Jubiläum im Jahr 2021 war das Menschensinfonieorchester (MSO) sehr aktiv. Es hatte einen Gastauftritt in der Kölner Philharmonie und zusammen mit dem KunstSalon-Orchester beim „Festival Italiana Kulturbrücke am Rhein“ gespielt. Orchesterleiter Alessandro Palmitessa im Interview.
Hans sucht das Glück: Wie kam es dazu, dass das Menschensinfonieorchester in der Kölner Philharmonie auftrat?
Alessandro Palmitessa: Die freie Opernkompanie Novoflot aus Berlin hatte einen Arnold-Schönberg-Zyklus in Köln initiiert und die „Schönberg-Gala“ sollte am 8. Oktober 2024 in der Kölner Philharmonie stattfinden. Sie kontaktierten uns, ob wir einen Beitrag zu diesem Abend leisten wollten. Ich habe sofort ja gesagt: Erstens wollte ich unbedingt einmal im besten Hause der Stadt mit dem Menschensinfonieorchester auftreten, zweitens habe ich daran geglaubt, dass ich das mit dem Orchester hinbekomme, das schon seit so vielen Jahren zusammen spielt. Aber es hat über drei Monate gedauert, bis ich eine offizielle Bestätigung erhielt. Wir mussten uns erst einigen, was gespielt werden sollte. Zuerst habe ich vorgeschlagen, dass wir eigene Lieder spielen, da sich der Zyklus aber um Schönberg drehte, suchte ich dann nach einem geeigneten Stück von ihm. Ich fand das Chorwerk „Friede auf Erden op 13“ geeignet, auf das wir uns dann nach einiger Diskussion geeinigt haben.
HsdG: Das muss für das Orchester schon eine große Sache gewesen sein.
Alessandro Palmitessa: Die erste Probe war gut, obwohl es eine ganz andere Arbeitskonstellation war. Wir haben nur für diese fünf Minuten Auftritt gearbeitet. Die zweite Probe war dann eine Katastrophe, weil sie befürchteten, dass das nicht gut ginge. - Am Ende ist alles gut gegangen.
HsdG: Da haben die wohl zwischendurch Angst vor der eigenen Courage bekommen, aber es war klar, dass die das schaffen. War es eine Herausforderung, das Schönberg-Stück für das MSO zu arrangieren?
Alessandro Palmitessa: Schon. Denn danach blieb nur noch wenig Zeit zum Proben und zwei Tage vor dem Auftritt trafen wir uns mit Novoflot zur Generalprobe. Ich habe das Stück so arrangiert, dass die ersten 20 Takte des Opus instrumental für das Orchester blieben. Das Stück ist für einen Chor geschrieben, aber ich habe das anders arrangiert, und als der Hauptsatz „Friede auf Erden“ kam, wurde der von Cornelia Hasselmann mit einer so genannten Opernstimme gesungen. Als wir an diesem Punkt angekommen waren, gingen wir in die Wiederholungsschleife, mit der gleichen Harmonie und der gleichen Melodie, und darüber hat ein neuer Sänger, Michael Hübner, gesungen mit Texten aus diesem Stück, aber frei gestaltet. Zum Schluss hat unsere Alex Warren diese Texte komplett gelesen und gerappt. Ich habe das mit viel Perkussion arrangiert und die Bläser haben den ursprünglich für Geigen vorgesehenen Part übernommen. Als wir das bei der Generalprobe dem Regisseur vorgespielt haben, war der sehr angetan. Der fand es sehr gelungen. Während des Konzerts war das Orchester sehr konzentriert. Ich habe mich sehr gefreut, dass ich mit dem Menschensinfonieorchester einen guten Erfolg auf einer so bedeutenden Bühne erzielen konnte.
HsdG: Das war schon sehr anspruchsvoll.
Alessandro Palmitessa: Für mich war das ein Doppelerfolg: zum einen, weil wir in der Philharmonie waren, und zweitens, weil wir ein Stück gespielt haben, das wir nie in unser Repertoire aufgenommen hätten, wenn wir nicht diese Einladung erhalten hätten. Die Berliner sind ohne Empfehlung eines Unterstützers übers Internet auf uns gestoßen und haben uns ausgewählt.
HsdG: In der Ankündigung zu dem Konzert stand, dass Schönberg einer der verwegensten Künstler der Musikgeschichte gewesen sei. Und verwegen war auch die Gründung des MSO, dem wegen der Straßenmusiker kaum jemand eine Überlebens-Chance eingeräumt hat und das heute seit 23 Jahren besteht.
Alessandro Palmitessa: Ich habe das Lied auch gerne gespielt, weil das Thema so aktuell ist: Friede auf Erden. Das hat Schönberg 1912 geschrieben.
HsdG: Das war wohl eine Friedensbotschaft im Vorfeld des drohenden Ersten Weltkriegs. Das passt auch zur Botschaft der Einigkeit und der Gemeinschaft des MSO.
Alessandro Palmitessa: Das war alles ein magischer Zufall, dass sich Schönberg und das MSO miteinander verbunden haben. Ich fand das generell auch interessant, dass ein Orchester wie das unsere ein Lied von Schönberg spielt, wodurch meine Musiker die Möglichkeit hatten, sich mit diesem Künstler zu beschäftigen. Sie hätten ihn vielleicht als zu elitär eingeschätzt.
https://youtube.com/shorts/92OKpRHFKGY?feature=shared
HsdG: Er wird heute in erster Linie mit atonaler Musik und der Zwölftontechnik in Verbindung gebracht.
Alessandro Palmitessa: Alle Musik, egal welche man hört, egal welche emotionale oder psychologische Wirkung sie haben mag, hat ihre Berechtigung. Man muss offen sein für das Neue. Dann kann man vielleicht das, was man immer gehört hat, anders hören. Mein Ziel in der Tiefe ist, dass ich immer mehr Menschen aus dem sozialen Milieu erreiche, die meistens ausgegrenzt werden. Musik soll die Menschen verbinden. Oft spaltet die Musik die Menschen durch die verschiedenen Sparten. Viele sind auf ihre Sparten angewiesen und interessieren sich nicht für die anderen. Mich selbst interessieren die nicht. Musik ist Musik. Klassisch, Folk, Jazz oder sozial: Jede Musik hat eine gewisse Botschaft und Rolle.
HsdG: Welchen Schwerpunkt strebt das MSO an?
Alessandro Palmitessa: Wenn man an die „Urmusik“ denkt, von den Urzeitmenschen aus den alten Kulturen: Diese Musik ist für morgen gedacht, für Geburten, die Hochzeit oder für den Tod usw. Das hat eine Funktion. In der Antike und auch heute noch in traditionellen Gesellschaften wie der indischen, afrikanischen oder arabischen hat die Musik in den verschiedenen Momenten des Tages und in wichtigen Momenten im Leben der Gemeinschaft immer eine grundlegende Rolle gespielt. Und ich denke mit meinem Orchester in diese Richtung. Wir haben eine gewisse Funktion. Wir möchten die Menschen wach machen und sagen: Dass wir zusammen gehören und nicht getrennt sein sollten. Wir können unterschiedlich sein und trotzdem etwas zusammen erreichen. In den letzten 10 bis 20 Jahren hat sich die Gesellschaft immer weiter voneinander weg entwickelt, allein in den letzten Jahren durch Corona. Solche Gruppen, wie die unsere, werden immer schwieriger. Es gibt so viele Menschen, die nicht mehr zusammen wohnen. Früher hat man sich häufiger besucht, jetzt läuft da Vieles über die Social Media und das Internet.
HsdG: Da ist es gut, dass das Italienische Kulturfestival Menschen zusammengebracht hat, bei dem das MSO am 28. November 2024 einen Auftritt in der Kölner Lutherkirche hatte.
Alessandro Palmitessa: Auch das war eine schöne Herausforderung. Wir arbeiteten mit „Klaus der Geiger“ zusammen. Der hat uns seit unserer Gründung unterstützt, schon bei unserem allerersten Konzert in der Lutherkirche. Er war so verwundert, als ich damals die Idee hatte, ein Orchester mit Straßenmusikern zu gründen. Er selbst war früher Hausbesetzer, auch im berühmten Stollwerck, und er war sehr stolz, dass ich diese Idee gehabt habe. Klaus der Geiger ist u. a. Straßenmusiker und hat sich einen Ruf als das Gewissen der Stadt Köln erworben. Er hat immer bei unseren Auftritten mitgemacht von Anfang an, und ist für uns immer ohne Gage aufgetreten.
HsdG: Der Auftritt beim Festival Italiana ging darüber aber hinaus.
Alessandro Palmitessa: Dieses Mal hatten wir gedacht, dass wir das MSO und das Orchester von „Klaus der Geiger“ zusammenbringen. Das MSO ist 23 Jahre, das KunstSalon-Orchester von Klaus 27 Jahre alt. Wir haben auf dieser Veranstaltung die beiden Orchester zusammen spielen lassen mit „Bella Ciao“, und „Forest“, das von mir komponiert wurde. Dazu kam „Gedanken malen Bilder“, ein Art Klassiker, der von unserem verstorbenen Mitglied „Frosch“, Jürgen Baack, getextet wurde. Diese Zusammenarbeit war ein ganz besonderes Highlight für uns. Wir freuten uns auch auf den Sänger und Gitarristen Cosimo Erario, der ein Freund von mir und ein langjähriger Unterstützer von uns ist. Hans Mörtter hat den Abend wunderbar moderiert.
HsdG: Wie kam es zu dem weiteren Gast des Abends aus dem westafrikanischen Senegal?
Alessandro Palmitessa: Das ist ein Musiker, der aus Euskirchen zu uns kommt, Aladji Mbaye Tama. Er ist ein Trommler aus Dakar, Senegal. Als ich ihn kennenlernte, hatte er noch mit keinen deutschen Musikern gespielt, und mich gefragt, ob er mit mir auf die Bühne kommen dürfe. Ich habe sofort ja gesagt und wir haben uns angefreundet. Er hat die gleiche Erfahrung wie ich gemacht, als ich von Italien nach Deutschland gekommen bin. Es ist nicht einfach, Anschluss zu finden. Durch mich und das MSO bekam er die Möglichkeit dazu, denn wir sind vom Selbstverständnis her offen für alle und selbst aus Musikern verschiedener Ethnien zusammengewürfelt.
https://youtube.com/shorts/bjk_3_FB77Q?feature=shared
HsdG: Die Westafrikaner haben eine sehr ausgeprägte Musikkultur mit ganz hervorragenden Musikern.
Alessandro Palmitessa: In Senegals Hauptstadt Dakar ist Mbaye total berühmt, aber hier noch nicht.
HsdG: Solche Auftritte sind auch ein wichtiger Schritt, um Sponsoren vom MSO zu überzeugen.
Alessandro Palmitessa: Wir haben Herrn Deubner von der Deubner-Stiftung zu dieser Gala eingeladen, der einer unserer Sponsoren ist. Ja, wir sind auf Sponsoren angewiesen, um die Finanzierung zu sichern. Die ist jedes Jahr das Thema und Herr Deubner hat uns in Krisensituationen oft geholfen. Hans Mörtter, der mit mir zusammen das MSO gegründet hat, ist auch nach seiner Entpflichtung als Pfarrer im vergangenen Jahr immer noch an unserer Seite. Das ist besonders bei den Konzerten eine große Motivation. Aber es wäre schön, wenn auch andere Menschen uns unterstützen würden.
HsdG: Das MSO hat seit der dritten CD genug Stücke bereit, um eine vierte CD zu produzieren. Aber im Augenblick muss offensichtlich an erster Stelle der Bestand des MSO gesichert werden.
Alessandro Palmitessa: Das Repertoire für eine neue CD haben wir schon lange und könnten sie innerhalb kürzester Zeit aufnehmen. Wie haben auch schon einen Titel: „Du bist herzlich willkommen!“ Aber der Erhalt des Orchesters steht tatsächlich im Vordergrund. Es gibt immer noch neue Leute, die sich anschließen und es ist ein beispielhaftes inklusives Projekt in unserer Gesellschaft. Wir werden am 14. Dezember 2024 für den Verein Solibund e.V.: Interkulturelles Zentrum in Köln-Porz, einer sozialen Selbsthilfeeinrichtung, spielen. Zum Abschluss gibt es das Programm „Wir sind Vielfalt! Kunst gegen Resignation!“ von der Projektleiterin Elisa Giovannetti Locori, die das dort gemacht hat. Das MSO hat nach wie vor ein großes Interesse an Auftritten.
HsdG: Nach den kürzlichen Erfolgen wäre es natürlich schön, wenn das MSO auch 2025 weitermachen könnte.
Alessandro Palmitessa: Ja. Gabrielle Antosiewicz, eine Regisseurin aus der Schweiz, lebt in Köln und dokumentiert unsere Arbeit seit 10 Jahren. Sie war auch in der Philharmonie und versucht, einen Dokumentarfilm über das Orchester auf die Beine zu stellen. Leider werden solche Themen von den Redakteuren oft nicht so gut angenommen. Sie macht aber weiter und ich hoffe, dass irgendwann eine fertige Dokumentation gelingen wird.
HsdG: Nach 23 Jahren Bestehen muss jetzt natürlich das 25. Jubiläum Anfang 2026 angestrebt werden.
Alessandro Palmitessa: Wir standen im Laufe der Zeit immer wieder kurz vor dem Aus. Aber wir machen weiter. Ich stelle auch immer wieder Anträge auf Förderung, was auch eine Arbeit für sich ist. Wir haben eine Mischung aus privaten Mitteln und Fördergeldern.
HsdG: Die Zahlen der Mitglieder des MSO sind über die Jahre stabil geblieben, auch wenn es aus verschiedenen Gründen immer wieder Abgänge gab.
Alessandro Palmitessa: Ja, wir haben neue Musiker, den Michael. Er singt u. a. Kinderlieder und ich kenne ihn seit vor zehn Jahren mein Sohn Rubin geboren wurde. Der andere ist der Gitarrist und Sänger Piotr Latala (Heilmasseur von Beruf). Dann haben wir noch Ekkehard Siebrasse. Er ist ein Amateur-Tenorsaxophonist, stammt aus Köln und ist etwa 70 Jahre alt. Er ist ein Liebhaber von Jazz und Blues.
HsdG: Es ist immer schön zu sehen, dass sich das MSO und sein Orchesterleiter nicht unterkriegen lassen.
Alessandro Palmitessa: Ich mache alles mit Freude am Leben.
HsdG: Das ist ein wunderbares Schlusswort. Danke für das Interview.
Das Interview mit Alessandro Palmitessa führte Helga Fitzner im November 2024.