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"Demokratie ist kein gesichertes Gut", Gerhart Baum, Bundesinnenminister a. D.

Gerhart Baum, Hans Mörtter und Peter Clös beim Gespräch in der Lutherkirche im Jahr 2007, Foto: Sonja Grupe
Gerhart Baum, Hans Mörtter und Peter Clös beim Gespräch in der Lutherkirche im Jahr 2007, Foto: Sonja Grupe

Ein Talkgottesdienst mit Gerhart Baum, Rechtsanwalt, Bundesinnenminister a. D. fand am 25.02.2007 in der Lutherkirche statt. Zwei rote Sessel und ein Tisch mit Mikrofon und Wassergläsern vor dem Altar kündigten schon bildlich das neue Format des Talkgottesdienstes *) an, das Pfarrer Hans Mörtter an diesem Tag ausprobierte. Während die ersten Gottesdienstbesucher*innen in die Kirche strömten, saßen der Schauspieler und Moderator Peter Clös und Gerhart Baum im Gemeinschaftsraum noch im intensiven Vorgespräch beieinander. Die Grundstimmung war gelassen und unaufgeregt, und doch lag so etwas wie gespannte Neugier in der Luft. In der Kirche spielten sich der Saxofonist Alessandro Palmitessa und unser Kantor Thomas Frerichs auf dem Klavier schon einmal ein.

Das Gesicht des ehemaligen Innenministers wirkt immer noch vertraut. Obwohl er kein Parlamentarier mehr ist, taucht er in den Medien immer dann auf, wenn es gilt, geplanten Gesetzen entgegenzuwirken, die zu einem Überwachungsstaat führen würden. Mit Verfassungsbeschwerden haben er und andere Engagierte mitgeholfen, uns unsere demokratische Freiheit weitgehend zu erhalten. Und er tut das auch weiterhin.

Der Grandseigneur der deutschen Politik ist heute fast 75 Jahre alt. Seine hellen und wachen Augen verraten aber schon, dass es ihm noch längst nicht an Lebendigkeit und Tatkraft gebricht. Die Besucher*innen der Lutherkirche erlebten einen temperamentvollen und kämpferischen Demokraten. Die Moderation von Peter Clös kreiste um das Thema Menschenwürde. Baums Repliken zeigten, dass eine „geglückte“ Demokratie eine sehr gute Rahmenbedingung für Menschenwürde ist, wobei er aber in erster Linie unsere Verpflichtung gegenüber denjenigen betonte, die sich die Demokratie erst noch erstreiten müssen.

In seiner abschließenden Würdigung erklärte Hans Mörtter: „Was Gerhart Baum sagt, ist ur-protestantisch und unter dem Aspekt der Menschenwürde ur-jüdisch. Protestantisch, da die Würde des Menschen unantastbar ist, weil wir nach Gottes Ebenbild geschaffen sind. Es gibt nichts – auch keine Form der Sicherheit – was das in Frage stellen darf. Der jüdische Aspekt leitet sich von der Thora ab: Es gibt Gerechtigkeit. Das ist ein feststehender Begriff. Die Übersetzung des hebräischen Wortes dafür bedeutet Gemeinschafts-Gerechtigkeit. Gerechtigkeit gibt es nur in Gemeinschaft, und das global.“

Die Kernaussagen von Gerhart Baum haben wir nachfolgend für Sie zusammengefasst. Das Interview führte der Schauspieler und Moderator Peter Clös.

Text: Helga Fitzner

*) Die Dokumentationen dieser Talkgottesdienste sind nun thematisch sortiert und in den Rubriken unter Projekte zu finden.


 

von
Gerhart Baum

"Ich habe wie ein Besessener Politik gemacht"

Ich bin 1932 in Dresden geboren, das im Februar 1945 im Feuersturm unterging. Danach war nichts mehr, wie es war. In meiner Kindheit war der Krieg deutlich zu spüren – besonders gegen Ende. Ob in Berlin oder in München oder wohin auch immer wir nach der Zerstörung von Dresden geflohen sind. Das Ende des Nationalsozialismus habe ich schon sehr bewusst miterlebt, etwa das fehlgeschlagene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 und andere Versuche, das Grauen vorzeitig zu beenden. Später habe ich mir gesagt, irgendetwas muss jetzt geschehen, damit diese Zeit nie wieder kommt. Ich wollte unmittelbar etwas bewegen. Dann habe ich gesehen, wie in den ersten Jahren nach dem Krieg das Alte noch sehr stark war. Unsere Lehrer hatten auch in der Nazi-Zeit gelehrt. Es wurde nie über die Vergangenheit gesprochen, über das, was da wirklich passiert war. Als ich mit Freunden einmal versuchte, in der Schule eine Gedenkstunde zum 20. Juli zu veranstalten, wurde es vom Lehrerkollegium abgelehnt. So was machen nur Vaterlandsverräter, hieß es. Das war 1947/48. Ich wusste, hier muss eine Menge geschehen, damit sich das nicht wiederholt, oder anders gesagt, damit diese neue Republik nicht in Gleichgültigkeit versinkt. Hier muss eine Demokratie aufgebaut werden.

Nach der Schule habe ich erst einmal Jura studiert und war auch ein Jahr lang als Anwalt tätig. Dann merkte ich, dass man eine aktive politische Tätigkeit nur sehr schwer mit einem Anwaltsbüro verbinden kann. Deshalb habe ich einen Job gesucht, der mir relative Freiheit lassen konnte. Das war der Arbeitgeberverband hier in Köln. Daneben konnte ich mich politisch betätigen. Ich war ein linker Liberaler und dennoch für die Arbeitgeber tätig. Das schloss sich damals nicht von vorneherein aus. Wir waren damals nicht auf dem Trip, den Kapitalismus abzuschaffen, wir wollten ihn reformieren. Die Präsidenten der BDA waren tolerant. Ich war ein bunter Vogel, und als ich dann 1972 ins Parlament kam, waren sie richtig stolz, dass einer von ihnen dort hineinkam. 

Ich habe angefangen - wenn ich das so sagen darf - wie ein Besessener Politik zu machen. Ich hatte bald den Vorsitz bei etlichen liberalen Organisationen – vom Jugendverband bis zur Stadtratsfraktion. 1972 kam ich ins Parlament und wurde gleich Parlamentarischer Staatssekretär und dann Minister. Danach - von 1982 bis 1994 - war ich nur noch Abgeordneter im Bundestag.

Ich habe unendlich viel Lebenskraft in die Politik gesteckt und viel zu wenig in das Familienleben. So ist das. Wenn Sie erst einmal in der Politik sind, werden Sie von einem zum anderen gezogen. Ich hatte ja auch immer politische Ziele, wie z. B. die neue Ostpolitik oder den Umweltschutz. Vieles ist gelungen, aber es gab auf dem Wege dahin auch viele Niederlagen. Diese politisch hochaktive Lebensphase klang eigentlich erst Anfang der 90er Jahre ab. Irgendwann habe ich mich gefragt: Was machst du eigentlich noch im Bundestag? Meine Partei hatte sich von meinen politischen Zielen entfernt. Die Liberalität, die ich vertrat, war nicht mehr gefragt. Bis hin zu der Erfahrung, dass mir Leute auf der Straße sagten, sie würden zwar mich noch wählen, aber meine Partei nicht. Das war kein Zustand. Ich habe aufgehört und mir hinterher gesagt, dass es eigentlich zu spät war. Zu dem Zeitpunkt war ich Anfang 60 Jahre alt und habe angefangen, etwas anderes zu machen. Aber der Hauptinhalt meines Lebens war und ist die Politik - seit den 1990er Jahren bis heute vor allem auch die Menschenrechtspolitik.

Sicherheit zu Lasten der Freiheit

Auch heute noch mische ich mich immer wieder in politische Themen ein. Ich werde immer zorniger, wenn ich erleben muss, dass die Grundrechte unserer Verfassung immer noch kaum im Bewusstsein der Menschen angekommen sind. Zum Beispiel, die RAF-Debatte heute ist die Debatte der 70-er Jahre - zwischen denen, die Fragen der inneren Sicherheit als Monopol für sich in Anspruch nehmen, und denen, die auch in Zeiten des Terrorismus sagen, der Polizei und Justiz darf nicht alles erlaubt werden und die Verfassung dürfe nicht unter die Räder kommen. Die Antiterror-Gesetze damals waren zum Teil Ausnahmegesetze. Wir lebten in einem Schockzustand. Und so hat man die Rechte beschnitten: die des Verteidigers und des Angeklagten. Es wurden Fahndungsmethoden eingeführt, die viele Unbeteiligte mit betrafen.

Der sogenannte Radikalenerlass schließlich hatte eine riesige Vertrauenskrise zwischen den Generationen bewirkt. Die Jüngeren fühlten sich vom Staat bespitzelt. Es gab damals viele Gruppen, kommunistische, maoistische und alle möglichen Protestbewegungen. Diese wurden beobachtet und Informationen über sie wurden gespeichert. Der entscheidende Punkt beim Radikalenerlass war, dass eine Person vor dem Eintritt in den öffentlichen Dienst, zum Beispiel als Lehrer, überprüft wurde. Die gesammelten Informationen über den Bewerber wurden der Schulbehörde gegeben, und die lehnt den Betroffenen möglicherweise ab, ohne dass er davon wusste. Auch ich bin beobachtet worden, das habe ich festgestellt, als ich mein Amt übernahm. Der Vertrauensverlust in den Staat war zu der Zeit enorm. Ich habe diese Regelanfrage 1979 später während meiner Amtszeit wieder abgeschafft. (Gerhart Baum war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister).

Es sind von der RAF-Zeit an in Deutschland Ausnahmegesetze gemacht worden, die die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit zu Lasten der Freiheit verschoben haben. Ganz ließ sich das nicht vermeiden, vor allem nach dem 11. September 2001 nicht, aber es ist in einer Weise geschehen, die zu kritisieren ist. Was wir aber unbedingt verteidigen müssen - auch gegen den Terrorismus – ist die Menschenwürde. Zum Beispiel: der Große Lauschangriff hätte Wanzen im intimsten Wohnungsbereich gestattet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2004 ist in unserem Sinn wegweisend. Unter Bezugnahme auf den Artikel 1 des Grundgesetzes hat es gesagt: Der Zweck heiligt nicht alle Mittel. Die Würde des Menschen ist wichtiger als die Notwendigkeit der polizeilichen Ermittlung. Und genau diese Grenze wird immer wieder überschritten. Es ist bemerkenswert, dass die Politik in den letzten Jahren etliche Male vom Verfassungsgericht in die Schranken gewiesen wurde: Der Lauschangriff wurde abgelehnt, der Abschuss von entführten Flugzeugen auch. Die Rasterfahndung als Fahndungsmaßnahme wurde abgeschafft. Die Polizeigesetze der Länder sind zum Teil weggeputzt worden. Hier wird deutlich, dass der Gesetzgeber rein populistisch orientiert war. Neue Gesetze als Symbolhandlungen, um die Menschen zu beruhigen. Ohne Rücksicht auf die Verfassung. Doch auch nach den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes gibt es immer wieder Politiker in verantwortlichen Positionen, die sich weigern, diese zu akzeptieren. Ich halte das für eine Verachtung der Verfassung. - Morgen werde ich in Karlsruhe eine Verfassungsbeschwerde gegen die sogenannte Computer-Wanze einreichen, dem heimlichen Eingriff des Staates in den privaten Computer mit sogenannten Trojanern oder anderen Mitteln, die verboten sind. Heimlich! Der Computer ist ja mehr als ein persönliches Tagebuch. Alles, was einen Menschen in seinem Lebensraum betrifft, wird dort abgelegt, persönlich und beruflich. Der Computer ist ja mehr und mehr wie ein ausgelagertes Gedächtnis.

"Reue muss gelebt werden"

Neben der Bedrohung durch den heutigen und ganz anders gearteten islamistisch geprägten Terrorismus müssen wir uns zur Zeit wieder mit dem Terrorismus der RAF in den 70-er Jahren beschäftigen. Nehmen wir die öffentliche Diskussion um die Freilassung einiger Terroristen. Von vorneherein wird schon einmal falsch gesagt, dass sie ‚vorzeitig’ sei. Das stimmt nicht. Sie werden zu dem Zeitpunkt entlassen, den das Recht vorsieht. Wie andere Straftäter auch. Viele Menschen begreifen nicht, dass in unserem Lande seit jeher eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht lebenslang dauert. Das Verfassungsgericht hat festgestellt, dass zu lebenslänglich Verurteilte nach 15, 18 oder manchmal auch erst nach 24 Jahren Antrag auf Entlassung stellen können. Selbst ein mehrfacher Mörder darf in seiner Menschenwürde nicht so vernichtet werden, dass es überhaupt kein Licht der Hoffnung auf eine Freilassung irgendwann mehr gibt. Für eine Entscheidung zur Freilassung muss man die Täter und Täterinnen begutachten, wie sie sich heute verhalten. Wenn jetzt, wie im Fall von Brigitte Mohnhaupt, eine Mörderin 24 Jahre im Gefängnis war, kann man erwarten, dass sie sich bewusst ist, dass sie vielen Menschen einen tiefen Schmerz zugefügt hat. Auch ohne große öffentliche Bekenntnisse. Hier in Köln lebt z. B. ein ehemaliger RAF-Täter, der an einem Überfall beteiligt war, bei dem ein Mensch getötet wurde. Heute setzt er sich für die Betreuung von jungen Strafgefangenen ein und wird bei diesen auch akzeptiert, weil er selber mal ein ‚Knacki’ war und weiß, wie das ist. Ich meine hier die Aktion ‚Kölner Appell’, bei der ich auch mitwirke.

Was ist Reue? Reicht ein Lippenbekenntnis? Nein, ein aufgeschriebenes Reuebekenntnis oder Lippenbekenntnis zählt nicht. Reue muss gelebt werden. Nur in einem neuen Leben in Freiheit kann sich wahre Reue zeigen.

„Responsibility to Protect“

Sechs Jahre lang war ich als Chef der Deutschen Delegation in der Menschen-rechtskommission der Vereinten Nationen tätig. Das ist das zentrale Organ der UN, das sich mit den Menschenrechtssituationen weltweit befasst. Generell ist das Bewusstsein für eine internationale Menschenrechtspolitik stärker geworden, und auch die Instrumente sind da. Als ich anfing, gab es kein Hochkommissariat bei den Vereinten Nationen, es gab keinen Internationalen Strafgerichtshof, wie es ihn jetzt gibt. Die internationale Menschenrechtspolitik hat sich zwar entwickelt, was aber nicht unbedingt heißt, dass die Menschenrechtssituation weltweit unbedingt besser geworden ist. Aber es gibt Erfolge.

Vor zwei Jahren hat ein Gipfel der Staatschefs in New York getagt. Man hat eine Schlusserklärung verabschiedet, auf die Kofi Annan zurecht sehr stolz ist. Darin wird die ‚responsibility to protect’ festgelegt, die Verantwortung aller Staaten, im Grunde auch aller Menschen, diejenigen zu schützen, die schweren Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen ausgesetzt sind. Es handelt sich hier um eine Selbstverpflichtung der Staaten. Da steht nämlich drin, in diesen Fällen HAT der Sicherheitsrat einzuschreiten. Es entsteht also ein neues Völkerrecht. Wir müssen außenpolitisch Strategien entwickeln, wie diese ‚responsibility to protect’ ausgebildet werden kann. Das erwarte ich auch von der deutschen Regierung.

Sudan – die fast vergessene Riesenkatastrophe

Im Sudan wird dieses Prinzip nicht beherzigt. Die Menschen dort werden nicht beschützt. Zunächst gab es einen jahrzehntelangen Konflikt zwischen dem Süden und Norden des Sudan. Schließlich waren die Versuche zu dieser Konfliktlösung erfolgreich. Während dieses ‚Friedensprozesses’ hat allerdings ein anderer großer Landesteil, nämlich Darfur, entdeckt, dass er bei der Verteilung von Macht und Staatseinnahmen benachteiligt wird. Darfur ist eine Region mit eigenen Interessen, war früher ein eigenes Sultanat und ist ungefähr so groß wie Frankreich, mit einem Viertel der Gesamtbevölkerung. Die Stämme in Darfur haben zu den gleichen Mitteln gegriffen wie vorher die Stämme im Süden. Sie meinten, Argumente werden nicht verstanden: Wir kämpfen. Es gab einen Aufstand, und die Regierung hat Öl ins Feuer gegossen. Sie hat versucht - und versucht das bis heute - diesen Konflikt militärisch zu lösen, nicht durch Unterstützung eines Friedensprozesses. Sie greift aktiv in die Kämpfe ein. Mehr als zwei Millionen Menschen leben heute in den Flüchtlingslagern und mehrere hunderttausend Menschen sind umgekommen. Es gibt unendlich viele Resolutionen des Sicherheitsrates, der für die Flüchtlinge eine UNO-Schutztruppe einrichten will, weil diese nicht mehr ausreichend versorgt werden können und bedroht werden. Das Beschämende an der ganzen Situation ist, dass die’„responsibility to protect’ nicht funktioniert.

Notwendig zur Änderung der Situation wäre massiver Druck von außen auf die Regierung in Karthum. Diese Sprache würden sie verstehen, aber sie wird nicht gesprochen. Das heißt, wir stehen vor einer schon fast vergessenen Riesenkatastrophe und gehen zur Tagesordnung über. Dabei gäbe es viele Instrumente, die man einsetzen könnte, politische und diplomatische. Man könnte Sanktionen verhängen, z. B. dadurch, dass verantwortliche Personen nicht mehr in die Europäische Union oder nach Amerika ausreisen dürften oder dass man Konten sperrt; oder die Fokussierung auf einzelne Personen durch den Internationalen Gerichtshof. Auch ein Öl-Embargo käme in Betracht. Der Gerichtshof in Den Haag beginnt jetzt, sich einige der Verantwortlichen vorzunehmen - z. B. Kommandanten, die Flüchtlingslager bombardiert haben. Es gibt in der internationalen Völkergemeinschaft eine ganze Reihe von Mitteln, um einen Staat zu zwingen, die Regeln des Völkerrechts zu respektieren. Das ist nicht einfach und geht auch nicht immer gut. Aber im Sudan wurde das bisher nicht einmal versucht.

Kampf für die Freiheit

Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen, haben ein Recht auf Unterstützung. Wir und übrigens auch die Unterdrückten sind durch das Internet weltweit heute sehr viel besser informiert. Der ägyptische Präsident Mubarak ist gerade dabei, die Nutzung des Internets zu beschneiden. Er sieht genau– wie auch die Chinesen – dass durch Internet-Informationen gefährliche Freiheitsbestrebungen geweckt werden. Ich habe in meinem Leben sehr viele Kontakte zu Menschen gehabt, die in Diktaturen leben - nicht nur in Osteuropa, auch zur Zeit der Militärdiktaturen in der Türkei und Griechenland. In Südafrika z. B. war ich zur Zeit der Apartheid jedes Jahr. Meine Sorge betraf die dort lebenden Menschen, die in Freiheit leben wollten. In Karthum habe ich mich mit vielen Leuten der Bürgerbewegung und der Zivilgesellschaft getroffen. Die wollen nicht im Morgengrauen von der ‚Sicherheitspolizei’ abgeholt werden. Die wollen nicht gefoltert werden. Die wollen sich versammeln, wollen Meinungsfreiheit. Überall gibt es Menschen, die frei sein wollen und darauf warten, dass wir sie unterstützen. Für alle Opfer ist es ungeheuer wichtig, wahrgenommen zu werden und das Gefühl zu haben, nicht vergessen zu werden. Ein neues Element im Völkerrecht ist der Kampf gegen die Straflosigkeit. Die Täter sollen nicht mehr so leicht davon kommen. Wir haben das Gott sei Dank an den Fällen Pinochet und Milosevic gesehen, dass das nicht mehr so einfach geht. Die Gewalttäter können sich nicht mehr in allen Fällen mit einer Pension zur Ruhe setzen, mit einem Millionenvermögen.

"Wir müssen für die Ausbreitung der Demokratie sorgen"

Es sind schon Fortschritte zu erkennen. Wir haben nach 1948 mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte angefangen. Das geschah aus der schrecklichen Erfahrung des Weltkrieges heraus. Daraus entwickelte sich ein ganzes Regelwerk des Völkerrechts. Meine naive Vorstellung ist, dass wir für die Ausbreitung der Demokratie sorgen müssen. Es gibt keine Alternative dazu. Die Leute müssen in der Lage sein, eine ungeliebte Regierung abzulösen – durch Wahlen. Es steht aber auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, dass Situationen vermieden werden sollten, die Menschen an die Waffen zwingt. Ich kämpfe gemeinsam mit Human Rights Watch und amnesty international für die Durchsetzung der Menschenrechte mit friedlichen Mitteln. Das wollen Menschen überall auf der Welt, ob sie nun Araber sind, Moslems und Buddhisten, ob sie in Südkorea leben oder in Nordkorea. - Leider sind die Versuche, für Freiheit zu werben, in einem hohen Maße diskreditiert worden durch die Alleingänge der US-Regierung im Irak. Wir haben einen solchen Rückschlag bei der Menschenrechtspolitik erlitten, wie noch nie zuvor. Man denke nur an Guantanamo, wo Leute ohne Rechtsschutz in einem Lager unter menschenunwürdigen Umständen gefangen gehalten werden. Der Verlust an Glaubwürdigkeit ist erheblich. Auch wir in Deutschland tragen fundamental mit dazu bei, denn wir haben wichtige Grundrechte beschädigt. Wir erleben seit Jahrzehnten einen Prozess der Erosion unserer Grundrechte. Die Datenverarbeitung ist mittlerweile sehr perfekt. Wir müssen höllisch aufpassen, dass die persönlichen Daten, die in vielfacher Weise über uns gespeichert werden, nicht missbraucht werden für Zwecke, die letztlich zu einem maschinenlesbaren, gläsernen Bürger führen. Wir sind auf dem Weg in den Überwachungsstaat.

Am Schluss das Positive. Wir sind in der glücklichen Lage, in einem freien Land zu leben. Die Freiheit haben wir uns nicht selbst erkämpft, wir sind von der Diktatur der Nazis von außen befreit worden, aber wir haben uns die Demokratie angeeignet. Man kann sagen: Wir leben in einer ‚geglückten’ Demokratie. Es bedurfte offenbar erst der tiefen Erfahrungen der Nazi-Diktatur, um die deutsche Republik zur Freiheit zu führen. Bei aller Kritik sollte man das nicht vergessen, aber auch dieses: Demokratie ist kein gesichertes Gut. Sie muss immer wieder mit Leben erfüllt und gesichert werden.

Redigiert von Helga Fitzner

 

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Gerhart Baum und Hans Mörtter in der Lutherkirche im Jahr 2007, Foto: Sonja Grupe