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"Da geht es nicht um Parteinahme, es geht um Zukunft" - Dialoge über Palästina I

Hans Mörtter / Foto: Michael Zellmer
Hans Mörtter / Foto: Michael Zellmer

Der Nahostkonflikt betrifft alle drei der monotheistischen Weltreligionen und ist kein lokaler, sondern ein Weltkonflikt. Pfarrer Hans Mörtter, Rupert Neudeck, Abdallah Frangi und Avi Primor sprachen über die Lage vor Ort. Die Gespräche fanden in den Jahren 2012 und 2013 in der Kölner Lutherkirche statt.

Seit der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 ist das Heilige Land, das einstige Palästina, nicht dauerhaft zur Ruhe gekommen. Die Gründe dafür sind vielfältig und nahezu undurchschaubar. Das ist schwierig für Israel, die Palästinenser:innen und die Israel umgebenen Staaten, aber auch für Deutschland, das sich nach der Shoah für das Wohlergehen der Israelis verantwortlich fühlt.

Deshalb hat Pfarrer Hans Mörtter die Themenreihe „Palästina“ begonnen, in der Menschen zu Wort kommen, die sich seit langer Zeit für die Konfliktregion einsetzen. In einem Interview legt er zunächst die Beweggründe dar, unter anderem, warum er beide Seiten, auch die palästinensische, zu Wort kommen lassen will.

Der erste Talkgast zur Themenreihe war Rupert Neudeck (1939 - 2016), vormals Cap Anamur, der seit 2003 mit dem Grünhelme e. V. regelmäßig Konfliktgebiete bereiste und dort humanitäre Hilfe und Wiederaufbauarbeit leistete. Er setzte sich jahrzehntelang auch für Palästina ein.

Der zweite Talkgast war im September 2012 der palästinensische Diplomat Abdallah Frangi. Er lebt seit über 40 Jahren überwiegend in Deutschland und ist der persönliche Berater des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas.

Als israelisch-jüdische Stimme kommt der ehemalige Botschafter in Berlin Avi Primor zu Wort. Zum jetzigen Zeitpunkt geht es Hans Mörtter vornehmlich darum, zuzuhören und zu verstehen.

von
Helga Fitzner

 

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Hans Mörtter / Foto: Michael Zellmer


"Ich bleibe der Bruder Israel"


Helga Fitzner: Es hat hier in Köln einen großen Wirbel um eine Ausstellung über die Nakba gegeben, das palästinensische Wort für Katastrophe. Was ist denn so verstörend an dem Thema?

Hans Mörtter: Es geht um die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde. Die Ausstellung zeigt, wie die ihre Heimat verlassen mussten und zu einem Volk von Flüchtlingen wurden. Einige ihrer Dörfer sind dabei vernichtet worden, so dass sie nicht zurückkehren konnten.

Helga Fitzner: Sie machen sich also der Israelkritik „schuldig“!?

Hans Mörtter: Nein. Dabei geht es uns nicht im geringsten darum, zu behaupten: Guck mal, wie „böse“ die Israelis damals gewesen sind. Aber die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung ist ein historisches Faktum.

Helga Fitzner: Was ist Ihr Anliegen?

Hans Mörtter: Es geht darum, dass dieser Umstand anerkannt wird, damit irgendwann eine Versöhnung stattfinden kann. Es geht darum, dass diese Art von Geschichte sich nicht wiederholt. Es geht um Zukunft. Man kann im Falle Palästinas sicher um viele Detailfragen streiten, aber dass es eine Vertreibung gegeben hat, ist eine belegbare Tatsache. Das brachte Leid über die Menschen, die seit vielen Generationen dort gelebt hatten. Die mussten ihr Land, ihre Olivenbäume, ihre Familiengräber, alles zurücklassen. Das ist ein Trauma. Das stelle ich erst einmal fest. Dann frage ich, was heißt es denn heute, nach diesen Geschehnissen miteinander zu leben.

Helga Fitzner: Sie weisen auch immer wieder darauf hin, dass vielen der Juden und Jüdinnen, die damals ins Heilige Land gekommen sind, von den Deutschen unaussprechliche Gräuel angetan worden waren.

Hans Mörtter: Richtig. Beide Völker leiden, jedes auf seine Art, an einer kollektiven Traumatisierung. Die können nur ein gemeinsames Haus bewohnen, wenn sie das Trauma des anderen wenigstens anerkennen. Das ist auch eine große Herausforderung für die palästinensische Seite, die berechtigte Existenzangst des jüdisch-israelischen Volkes ernst zu nehmen.

Helga Fitzner: Die Menschheit hat so eine Art angeborene Vernichtungsangst, zum Beispiel, vor Naturkatastrophen oder Meteorit-Einschlägen. Für das jüdische Volk ist aber innerhalb der erinnerbaren Geschichte eine Massenvernichtung unvorstellbaren Ausmaßes Realität geworden.

Hans Mörtter: Ja. Deswegen sollten wir Deutschen vielleicht versuchen, behutsam Brücken zu bauen für eine gegenseitige Wahrnehmung. Für mich heißt das auf keinen Fall, indem ich von der palästinensischen Geschichte erzähle, dass ich ein Feind Israels wäre. Ich bleibe der Bruder Israels, durchaus auch der In-Der-Schuld-Stehende.

Helga Fitzner: Was für Brücken sollen damit gebaut werden?

Hans Mörtter: Ich glaube, dass wir neben der jüdischen auch die Geschichte der Palästinenser und Palästinenserinnen kennen müssen, und zwar ohne Verurteilung des israelischen Volkes. Da geht es nicht um Parteinahme, denn die müssen ja miteinander leben. Es gibt keine Alternative dazu…

Helga Fitzner: … doch, eine Mauer.

Hans Mörtter: Eine Riesenmauer. Die ist der Albtraum, gerade für uns Deutsche. Was habe ich gegen die deutsche Mauer damals für einen Hass entwickelt. Ich als Pfarrer und Pazifist hatte Vorstellungen, dass ich Handgranaten werfe und das Ding in die Luft sprenge. Dieser Hass entsprang aber dem furchtbaren Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung. Die Mauer in Israel steht für Trennung von Wegen, von Menschen, von ganzen Dörfern und Gemeinschaften. Sie geht mitten durch Olivenhaine, die die Identität und die Wurzeln von palästinensischen Bauern sind. Aber wir müssen heraus aus einer Schuldzuweisung und angstbesetzten Diskussion. Ich muss erst einmal wahrnehmen. Mit dem Blick des anderen zu schauen, geht nur, wenn ich dem anderen mal zuhöre.

Helga Fitzner: Die Beschäftigung mit dem Thema wird von bestimmten Gruppierungen als anti-israelische Haltung gewertet.

Hans Mörtter: Anti-israelisch sind für mich die Faschisten und Faschistinnen. Da müssen wir extrem wachsam sein, weil der Faschismus sich gegen das Judentum, den Islam und das moderne Christentum gleichermaßen wendet. Wenn ich einen Menschen als Bruder liebe und ich sehe, dass er etwas tut, was schlimme Auswirkungen für ihn hat, oder wenn ich sehe, dass er in eine Sackgasse rennt, dann muss ich ihm das sagen, weil ich ihn liebe.

Helga Fitzner: Wie stehen Sie zu den jüdischen Israelis?

Hans Mörtter: Ein jüdischer Mensch ist für mich ein Mensch, dem ich gerne zuhöre und der ein willkommenes Gegenüber für mich ist. Ich sehe in ihm nicht zuerst ein Holocaust-Opfer oder den Nachfahren eines solchen. Er hat vielleicht einfach eine Weltsicht, die mich neugierig macht. Ich lerne gerne dazu. Für mich als Pfarrer ist er in erster Linie ein Mensch, der einen Glauben hat, mit dem ich sehr viel gemeinsam habe.

Helga Fitzner: Jesus war Jude.

Hans Mörtter: Jesus war Jude, fast sein ganzes Umfeld war jüdisch. Die jüdische Thora ist als Altes Testament auch unsere Bibel. – Das jüdische Volk ist im Laufe der Nachkriegsgeschichte auch zu unserem Partnervolk geworden. Wir sind dem Volk schuldig, ehrlich mit ihm zu sein und nicht den Politiker:innen oder den militärischen Führer:innen, die gerade vorübergehend an der Macht sind, nach dem Mund zu reden. In der israelischen Presse wird ja auch massiv die Siedlungspolitik des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Westjordanland kritisiert.

Helga Fitzner: Wenn die israelische Presse diese Kritik äußert, ist das aber etwas anderes, als wenn das aus Deutschland kommt.

Hans Mörtter: Das ist ein Unterschied. Aber ich finde, man muss es ihnen sagen. Die Israelis haben dann immer noch die Möglichkeit zu antworten: Das interessiert uns nicht. Das ist ihr Recht. Aber mein Recht ist es auch zu sagen mit großer Achtung: Leute, das ist fatal, das führt zu immer mehr Hass, zu immer mehr Verzweiflung. So gibt es keine Zukunft. Ich wünsche Euch aber Zukunft. Ich wünsche Euch Schalom und Salaam. Jerusalem ist die heilige Stadt von drei Weltreligionen. Das ist die große Herausforderung. Wenn wir es nicht schaffen, da in ein friedliches Miteinander-Leben zu kommen, wenn wir den Kindern und Jugendlichen nicht beibringen, dass das möglich ist, wenn wir „Alten“ das nicht schaffen, dann können wir diesen Planeten aufgeben.

 

„Wir können nicht stellvertretend abarbeiten“

 

Helga Fitzner: Die Fronten haben sich aber so verhärtet, dass oft der Grundsatz gilt: Wer pro-palästinensisch ist, ist automatisch anti-israelisch. Das ginge doch gar nicht anders.

Hans Mörtter: Wieso das denn? Nee. (Lange Pause). Ich kritisiere die Politik der palästinensischen Hamas genauso, wenn sie Menschenleben fordert. Das geht nicht.

Helga Fitzner: Israelische Siedlungen werden von palästinensischer Seite fast regelmäßig mit Raketen beschossen.

Hans Mörtter: Wo Waffen sind, werden sie meistens auch benutzt. Da ist manchmal schwer zu sagen, wer eigentlich schuld ist. Die Israelis geben der Hamas und der Fatah die Schuld, weil die die Juden ins Meer treiben wollten: Auch das ist historisch belegt. Die Kriege, die da stattgefunden haben, sind aber auch Zeichen einer Epoche und einer Entwicklung. Das berechtigte Anliegen des israelischen Volkes und der israelischen Politik sehe ich ganz klar, da habe ich auch überhaupt kein Recht, ihnen das abzusprechen. Wenn sie Gewalt anwenden müssen, weil es nicht anders geht, bedrückt mich das, aber das Recht dazu kann ich ihnen nicht absprechen. Aber wir müssen einfach weg von der Überzeugung, dass Krieg der einzige Weg ist, einen Konflikt zu lösen. Wir müssen – weltweit – alternative Lösungsmöglichkeiten finden.

Helga Fitzner: Sie sprechen trotz Mauer und Zweistaatenlösung vom Zusammenleben.

Hans Mörtter: Man redet von der Trennung, von der Zweistaatenlösung für Israel. Aber das ist auch schon wieder Schnee von gestern. Das wäre auch wegen der wirtschaftlichen Verflechtungen sehr schwierig. Die einzige Möglichkeit wird ein Miteinander sein, aber dazu müssen sie ihre Wunden zeigen, sie müssen sich zuhören und sich vergeben können. Sie müssen sich achten lernen, Friedensrituale und Friedenszeremonien entwickeln, Versöhnungsrituale, für das, was ihnen auf beiden Seiten widerfahren ist. Da muss ich dem anderen aber auch zugestehen, dass da etwas passiert ist. Vielleicht hört man dann ein Bedauern, die Entschuldigung, dass man damals nicht anders hätte reagieren können.

Helga Fitzner: Die Palästinenser und Palästinenserinnen baden jetzt auch ein Stück weit das aus, was Deutsche den Juden und Jüdinnen während des Zweiten Weltkriegs angetan haben.

Hans Mörtter: Nachdem die europäischen Juden wegen der Shoah in den 1940-er Jahren ins Heilige Land strömten, sind viele Palästinenser als Folge der Vertreibung in die ganze Welt ausgewandert oder in Flüchtlingslagern gelandet. Die mussten aus ihren Dörfern und bäuerlichen Verbänden heraus. Es sind aber auch Ingenieure, Architekten, Musiker, Künstler daraus hervorgegangen. Die sind global geworden. Sie sind, wie die Juden, ein Volk, das über die ganze Welt verstreut lebt. Das müsste eigentlich verbinden, die Sehnsucht nach Heimat, zu einem Ort zu gehören. – Es wäre natürlich anmaßend zu sagen, dass wir jetzt diejenigen sind, die ihnen das wieder aufzeigen. Wir können aber nicht immer die eine Gruppe gegen die andere stigmatisieren. Das ist komplexer.

Helga Fitzner: Die palästinensische und jüdische Bevölkerung hat viel gemeinsam, sie kennen Vertreibung, Wurzellosigkeit.

Hans Mörtter: Angstgefühle, Ohnmachtsgefühle, Verzweiflung.

Helga Fitzner: Sie haben zum Themengottesdienst jemanden eingeladen, der sich vor Ort auskennt.

Hans Mörtter: Rupert Neudeck ist mit seiner Grünhelme-Organisation im Westjordanland und Gaza aktiv und versucht dort, friedensstiftende Arbeit zu machen. Er erlebt dabei das Leid der Bevölkerung wegen des Mauerbaus und der Siedlungspolitik von Netanjahu. Rupert Neudeck engagiert sich da sehr für die palästinensischen Bauern und die Armen. Über die wissen wir so gut wie gar nichts.

Helga Fitzner: Das Elend hat zu viel Hass auf palästinensischer Seite geführt.

Hans Mörtter: Hass kann ich nur bekämpfen, indem ich anfange, zu erzählen und den Geschichten der Gegenseite zuzuhören.

Helga Fitzner: Viele sagen, dass es dazu eines Wunders bedarf. Aber ein solches Wunder ist bereits geschehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich Deutsche und Israelis wieder die Hände reichen.

Hans Mörtter: Eigentlich ist es absolut undenkbar, dass da wenigstens teilweise wieder so etwas wie Freundschaft entstehen konnte. Es widerspricht jeder Logik, dass das möglich ist. Die Kriegsgeschichte von Arabern und Juden ist dabei längst nicht so menschenvernichtend in dieser radikalen Ausschließlichkeit und in dem verheerenden Ausmaß wie die Shoah.

Helga Fitzner: Wenn jetzt in Deutschland eine Ausstellung über die Vertreibung der Palästinenser stattfindet, erkennt man den Juden und Jüdinnen damit wirklich das ab, was ihnen von uns angetan worden ist, oder sind das zweierlei Schuhe.

Hans Mörtter: Das sind zweierlei Schuhe. Wir können nicht stellvertretend abarbeiten oder aufrechnen. Es gibt eine faktische Bedrohung des israelischen Volkes, die sich auch nicht wegdiskutieren lässt. Aber die Faktoren, die dazu geführt haben, sind sehr vielschichtig und haben natürlich auch mit israelischer Politik zu tun, die kaum Diplomatie zulässt und auf sogenannte Vergeltungsschläge nicht verzichten will. Israel befindet sich seit der Staatsgründung 1948 im Kriegszustand. Was heißt das für die Menschen? Das muss man sich vorstellen, sich seit Generationen jeden Tag im Krieg zu befinden. Das macht doch etwas mit den Menschen, da ist auch im “Alltag“ immer eine unterschwellige Angst da. Wie wirkt sich das nach innen aus, in den Beziehungen, für eine Zukunftsfähigkeit? Da herrschen einfach Todeskreisläufe, die nach meiner Meinung damit zu tun haben, dass die Not des anderen nicht wahrgenommen wird. Die palästinensische Seite sieht nicht die Existenznot des jüdischen Volkes. Die israelische Politik dagegen sieht nicht die Not des palästinensischen Volkes, das in ihrem Land lebt.

Helga Fitzner: Neben dem Gespräch mit Rupert Neudeck wird auch die Solotänzerin Morgane de Toeuf auftreten. Was hat es mit ihr auf sich?

Hans Mörtter: Das ist einfach eine junge klassische Tänzerin, die viele gute Ideen hat. Die hat sehr viel Empathie und ist sehr ausdrucksstark. Die wird mit unserem Kantor Thomas Frerichs zusammen ein Stück entwickeln und eine Tanzperformance zur Situation in Palästina aufführen. Sie versucht das künstlerisch sichtbar zu machen. Das finde ich auch wichtig, dass wir nicht nur reden, sondern durch diese künstlerische Freisetzung versuchen, Brücken zu bauen. Mit Kunst kann man anders in die Wirklichkeit einbrechen.

Das Interview führte Helga Fitzner am 9. Mai 2012