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Eine Glaubensreform, die Gott ins Leben zurückholt - Talkgottesdienst mit Klaus-Peter Jörns

Hans-Peter Jörns und Hans Mörtter / Foto: Lothar Wages
Hans-Peter Jörns und Hans Mörtter / Foto: Lothar Wages

Als Pfarrer Hans Mörtter anlässlich des 500jährigen Luther-Jubiläums im Oktober die Reformation II ausrief, versprach er, dass dies erst der Anfang gewesen sei. Mörtter sieht die Notwendigkeit, unsere Zukunft reformatorisch neu zu gestalten, wozu auch eine globale Perspektive gehöre. Nun hat er einen hochkarätigen Mitstreiter eingeladen: Der Theologe und Soziologe Klaus-Peter Jörns (1939 in Stettin geboren) ist Mitbegründer der „Gesellschaft für eine Glaubensreform“ und Autor mehrerer Bücher, darunter „Notwendige Abschiede – Auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum“, das 2017 in sechster Auflage erschien. Darin postuliert er eine neue Theologie im Gegensatz zur ständigen Wiederholung alter Denkmuster.  

Unverlierbare Liebe


Hans Mörtter: Ich hätte nie gedacht, dass es dazu kommen würde, dass wir zwei nebeneinandersitzen. Als junger Theologiestudent stieß ich auf ein Buch von Klaus-Peter Jörns über Selbstmord. Das war damals für mich eine große Befreiung, weil es jemanden gibt, der anders denkt, der frei denkt, der gegen den Strich und gegen den Mainstream denkt und damit eine neue Wirklichkeit setzt. Klaus-Peter Jörns, vielen Dank, dass Sie mich damals auf den Weg gebracht haben und bis heute nach Ihren Überzeugungen handeln. Wie sind Sie auf den Weg zum kritischen Denker geraten? Sie hätten ja auch ein braver Professor werden können, der gehorsam ist und in den Systemen bleibt und denkt. Aber das haben Sie gerade nicht getan.

Klaus-Peter Jörns: Vielen Dank für die Einladung, Herr Mörtter. Es gibt da mehrere Impulse, einer ging zuerst von meiner Mutter aus: Von ihr habe ich gelernt, dass es unverlierbare Liebe als Wirklichkeit gibt. In allem, was ich Gutes oder nicht Gutes gemacht habe, ist meine Mutter mir treu geblieben, als diejenige, die mich begleitet und getragen hat. Das war eine ganz wichtige Erfahrung, gerade durch die Zeit der Flucht hindurch und des Neuanfangs nach dem Krieg, wo es wirklich schwierig war, auch diese Flüchtlingsrealität zu erleben. Denn plötzlich wurden wir als „Pollacken“ bezeichnet, nachdem wir aus Stettin in den Westen gekommen waren. Dagegen war diese Erfahrung, geliebt zu sein, eine wunderbare Kraft. Diese Erfahrung hat es mir später glaubwürdig sein lassen können, dass Gott Liebe ist, dass es etwas gibt, was sich nicht berechnen lässt, was trotzdem da ist und einen trägt. Das war das Eine. – Na ja, und ich habe viel Religionsgeschichtliches gelesen. Mein Vater hat mir zur Konfirmation in der Kartäuserkirche ein Buch mit religionsgeschichtlichen Texten aus aller Welt geschenkt, und das war eine Fundgrube für mich, in die hinein ich dann eigentlich die später theologisch gelernten Dinge einbetten konnte; denn der Rahmen war schon da: Ich habe schon gewusst, dass es andere Religionen gibt und dass Religion etwas ist, was die ganze Menschheit von Anfang an begleitet. Es ist nicht so, wie uns immer weisgemacht wurde, dass Gott praktisch erst sein Herz für die Menschheit entdeckt habe, seit es Juden und Christen gibt. Das war längst vorher so. Später zeigte sich durch das Studium, dass eben das, was wir als jüdisches und christliches Gedankengut haben, zu 80 Prozent aus anderen Quellen stammt, die vorher da waren. Das hat mich sehr viel gelassener gemacht im Studieren der Texte, die wir in der Bibel haben. Ich konnte den großen Strom der Religionsgeschichte sehen. Dieses Geschenk war einfach eine schöne, weise Tat meines Vaters.

Hans Mörtter: Hat es dann nicht schon mal Ärger gegeben mit den Kirchenleitungen, dass Sie sich hier auf seltsamen Pfaden bewegen?

Klaus-Peter Jörns: Danach hat mich im Studium niemand gefragt.

Hans Mörtter: Genau, klar, das ist ja eine freie Universität, die Bildung und das Studium sind frei und nicht in der Hand unserer Kirchen und erlauben so das freie Denken. 


Klaus-Peter Jörns: Es gibt noch andere Impulse. Ich wurde Pfarrer, arbeitete zehn Jahre als Dorfpfarrer, stand jeden Sonntag und Feiertag am Altar und schaute immer auf dieses Kruzifix, auf diesen leidend dort Hängenden. Allmählich wurde ich mir immer klarer darüber, wie dieser Tod eigentlich zustande gekommen ist, nämlich dadurch, dass Jesus das Gottesbild seiner Umgebung und Tradition revolutioniert hat. Dieses alte Gottesbild wollte von den Menschen etwas haben, stellte Forderungen nach Vollkommenheit an sie, die sie im Grunde nicht erfüllen können. Das hat Jesus nicht mehr akzeptiert. Er hat die Menschen nicht mehr danach bemessen, wie viele Gebote sie einhalten, sondern er hat Menschen nach dem bewertet, was sie an Sehnsüchten haben – nach Frieden untereinander, nach Gerechtigkeit, und was sie dafür tun. Deswegen hat unser schöner Heiland gesagt: „Kommt alle her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ Ein kluger Theologe hat mal gesagt: „Damit sind alle die Religionsgeschädigten gemeint, alle Leute, die unter den Forderungen des als Herrschaftsinstrument missbrauchten Gottes gelitten haben.“ Und da kam Jesus und hat begriffen: Das Leben ist schwer, gerade wenn man gut sein will. Es ist unendlich schwer, und das schafft keiner perfekt. Und mit denen, die daran leiden, paktiert er und nimmt die Ansätze des Guten schon mal für das Ganze, was sie wollen; und darauf aufbauend haben sie auch eine Chance.

Hans Mörtter: Es geht dann um Freisetzung, das ist das Jesuanische.

Klaus-Peter Jörns: Ja.

Hans Mörtter: Solange ich das Gefühl habe, als Mensch defizitär zu sein, solange bin ich abhängig und brauche den gnädigen Gott, der sagt, ist gar nicht so schlimm, aber da wirst du nie im Leben herauskommen, deswegen brauchst du mich.

Klaus-Peter Jörns: Ja, ja. Aber das ist gar nicht so einfach zu akzeptieren, dass wir und alle anderen einander im Leben vieles schuldig bleiben und gegenseitig auf Vergebung angewiesen sind. Wir wären ja lieber perfekt. Vom Herzen her macht das einem keine Lust zu glauben. Aber die kommt, wenn man von Jesus lernt, dass wir ‚kleinen Lichter‘ die Vollmacht haben, einander Schuld zu vergeben. Dadurch sind wir „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“! Aber auch dadurch, dass wir in Gott Mann und Frau, Mutter und Vater, miteinander verbinden. Wenn man sagt, der Mensch ist nach Gottes Bild geschaffen, dann muss man dazu bedenken, dass Gott ihn als Mann und Frau geschaffen hat. Demnach ist Gott auch Mann und Frau. Ist ja eine einfache Logik, wenn da in der Bibel steht: Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde und schuf sie als Mann und Frau. Und das heißt: In Gott ist alles; und damit sind wir heraus aus dieser fürchterlichen Identifizierung von Gott und Mann – bis in den Himmel hinein. Das ist überhaupt eine der furchtbaren Leidenschaften von Theologie, irdische Verhältnisse in den Himmel zu transportieren, und wo auf Erden die Grenzen verlaufen, auch im Himmel Grenzen anzusetzen. Denn die Grenzziehungen – vor allem zwischen den Religionen – sind es letztlich, die für Streit, für Konkurrenz, für Ärger sorgen und auch für Kriege. Dazu gehört auch das, was Sie in Ihrem Papier zur Reformation II gesagt haben: Es fehlt die Ökumene der ganzen Menschheit. Was wir an Ökumene haben, das ist im Grunde nur ein innerchristliches Unternehmen zwischen Katholik:innen und Evangelischen. „Ökumene“ heißt aber „die bewohnte Welt“! Davon sind wir weit entfernt. Zumindest alle Religionen gehören in die Ökumene. Eine ökumenische Theologie müsste deshalb eine sein, die auch die heiligen Schriften der anderen Religionen mit in den Blick nimmt und sagt, dass wir eine Fülle an religiösen Schätzen haben, die wir für die ganze Menschheit versuchen nutzbar zu machen.

Hans Mörtter: Wir haben in Köln den Rat der Religionen, insgesamt haben wir 138 Religionsgemeinschaften in Köln, das ist schon der Wahnsinn. Es sind ganz kleine Gruppen dabei und es gibt größere Gruppen, die sich regelmäßig treffen. Nur die haben ein Problem: die kriegen nichts zusammen hin, weil jeder sich selbst für wichtig hält, in unterschiedlicher Form, und so blockieren sie sich auch gegenseitig. So kommt keine Innovation zustande, da muss der göttliche Geist anders dazwischenfunken.

Klaus-Peter Jörns: Aber das gibt es ja schon. Es gibt einen ganz anderen Umgang der Religionen miteinander. Unsere Gesellschaft für eine Glaubensreform fördert einen Gedanken, wie er in Bern realisiert worden ist: dieses „Haus der Religionen“, wo man sich nicht nur gelegentlich trifft, sondern wo alle in der Stadt Bern vertretenen Religionen unter einem Dach ein riesiges Haus gebaut haben. Jede/r hat dort seine kultische Stätte, aber sie haben einen großen Gemeinschaftsraum, und sie leben halt unter einem Dach. Das heißt, man kommuniziert auch täglich miteinander. Es ist eine wirklich neue Öffnung hin zum gegenseitigen Verstehen. Man teilt die Mahlzeiten, man lernt nicht nur die Kochrezepte kennen, sondern übers Essen auch die Kultur der anderen schätzen. Alles das transportiert sich erst, wenn man diese Lebenszusammenhänge mit einbezieht, und darum ist dieses Haus der Religionen in Bern eine einmalige Geschichte. Und der Clou ist: Finanziert haben das zum großen Teil die Stadt und der Kanton Bern, weil sie begriffen haben, wenn wir Integration wollen – der Menschen aus unterschiedlichen Völkern –, dann müssen wir bei den Religionen anfangen. So wird der Frieden gefördert.

Hans Mörtter: In Köln werden wir zum Ende des Ramadan 2019, am 9. Juni, ein Festival der Religionen machen. Das planen wir seit anderthalb Jahren in kleinem Kreis und haben der Oberbürgermeisterin gesagt, das ist Chefsache. Wir wissen, dass wir langfristig planen müssen, damit das was wird.

Klaus-Peter Jörns: Da müssen Sie die Berner Erfahrungen einbeziehen.

Hans Mörtter: Bei denen haken wir nach. Das Fest der Religionen ist eine Bewegung, die es inzwischen schon in Berlin und London gibt. Sie nennt sich „faiths in tunes“ und Köln kommt jetzt dazu. Da entsteht gerade eine Vernetzung miteinander, auf die ich sehr gespannt bin. Nur so, im Miteinander der Religionen ist Frieden in Zukunft möglich.
Aber schauen wir doch mal auf eine grundsätzliche Frage. Es gibt die verbreitete Doktrin vom „Wort Gottes“, göttlich inspiriert festgeschrieben in den Heiligen Schriften. Das steht da, unumstößlich. Was ist das Wort Gottes?

Klaus-Peter Jörns: Wort Gottes kann etwas nur werden, das ist es nicht. Es liegt auch nicht herum, sondern es trifft mich. Wenn mich ein Wort trifft und mir etwas erhellt, was ich bisher nicht durchschaut oder verstanden habe, wenn ich für mich plötzlich einen Weg sehe, wo keiner war, dann kann ein Wort aus Menschen Mund Gottes Wort werden, aber nicht festgeschrieben als religiöses Gesetz, das wiederum dann Glauben fordert. Gottes Wort schafft sich selber Glauben, indem es als solches erkannt wird, und dann kann man – weil man erkannt hat: das Wort hat mich getroffen, für mich ist das „eine Offenbarung“, sagen wir ja auch –, dann kann man sagen: Ja, das hat etwas mit Gott zu tun. Aber ich kann niemandem befehlen, einen Satz, der irgendwo in der Bibel steht, als Gottes Wort zu akzeptieren.

Hans Mörtter: Gott ist immer Fluss, ist immer Bewegung, ist immer auch Geist, das ist nicht besitzbar. Das ist der Punkt.

Klaus-Peter Jörns: Gottes Wort hat einen unmittelbaren Lebensbezug. Wenn Menschen aber das Gefühl haben, ein als Gottes Wort bezeichnetes Bibelwort mit dem Leben nichts mehr zu tun hat, dann ist am besten erwiesen, dass eine schriftlich fixierte Überlieferung irgendwann einmal eine große Bedeutung hatte – das ist nicht bestritten – aber sie inzwischen verloren hat. Und weil die Kulturen, weil die Zeiten, die Lebensumstände, die Lebenserwartungen, Hoffnungen sich ändern, muss dann ein anderes Wort her, das mir in dieser Situation zum Wort Gottes wird. Die Reformatoren haben immer gesagt, Wort Gottes ist nicht das, was in der Bibel steht, sondern das gepredigte Wort, das ich höre, und das heißt, was ein Mensch auch wirklich bezeugt. Dann kann es diese Qualität übernehmen.

Hans Mörtter: Es ist ein ständiges neues Suchen, Fragen, Begehren, aber auch jenseits von Machen, also auch überrascht werden.

Klaus-Peter Jörns: Ja, natürlich. Und auch gestellt werden! Das gibt es natürlich auch, dass Gottes Wort, wenn man es plötzlich begreift, einem auch sagt: Halt, mein Lieber, hier ist Schluss, bis hierher und nicht weiter, das führt zu nichts oder eben zu etwas Fürchterlichem.

Hans Mörtter: Oder auch: Weglaufen gilt nicht.

Klaus-Peter Jörns: Oder so, jedenfalls klipp und klar.


Religion hat zu dienen, nicht zu herrschen


Hans Mörtter: Sie haben im Mai in Wittenberg ein Gespräch mit Margot Käßmann geführt, wo es auch um Glaubensreform ging, um neue Ansätze. Margot Käßmann redete davon – die war da ja ganz offen auch, da bin ich ganz überrascht, wie schön das Gespräch war –, jedenfalls sagt sie, dass ihr der klassische Gottesdienst sehr wichtig ist. Das kennen wir schon gar nicht mehr hier, dann das Kyrie, das Gloria, ein Gebet, die Lesung, die Predigt, Fürbittengebet und Segen und fertig, Ende, aus. Da weiß man genau, wann Schluss ist oder wo man gerade ist. Das höre ich immer wieder, das gibt uns Sicherheit, weil wir das seit 500 Jahren so kennen. Ist das nicht auch gefährlich?

Klaus-Peter Jörns: Ich verstehe das erst einmal als etwas, was aus einer gehetzten Seele kommt. Wenn man jemanden wie Frau Käßmann um die Erde jagt, um für das Reformationsjubiläum zu werben, dann kann ich mir vorstellen, dass sie richtig froh ist, wenn sie in einen Gottesdienst kommt und da läuft die Liturgie ab, wo sie gar nichts hinzutun muss, das steht alles fest, dann kann sie mal alle Sinne hängen lassen. Das ist einfach eine sehr angenehme Geschichte, und es hat auch mit Geborgenheit zu tun: Es sind die bekannten Klänge, und da ist man auch in einer geborgenen Atmosphäre. Aber wenn das alles ist, ist es natürlich zu wenig, das geht nicht. Dann wäre es ein Zustand, in den man hinein- und aus dem man auch einfach wieder herausgehen kann, oder sich sagt, ich mach mal ein kleines Seelen-Nickerchen. Aber Religion ist im Allgemeinen nicht dazu da, ein Nickerchen zu machen, sondern die Welt mit geschärftem Blick für die Not der Menschen zu sehen und dann auch etwas zu tun.

Hans Mörtter: Aber nicht nur die Not, sondern dass vielleicht auch die Stärken spürbar werden.

Klaus-Peter Jörns: Ja, natürlich.

Hans Mörtter: Ich erinnere mich noch als Kind, wie fürchterlich das Abendmahl abging. Das war so mit hängenden Schultern, mit dem Kopf nach unten, und ich bin ja so schlecht und ich muss dafür büßen. Unsere ehemalige Küsterin sagte immer, ich kann gar nicht so viel sündigen, wie wir hier Abendmahl feiern und mir dabei alles vergeben wird. Dabei ist das doch etwas Schönes. Unser Kantor Thomas Frerichs spielt inzwischen einen Swing dabei mit anderen zusammen oder wir bewegen uns dabei in großem Kreis. Wir trinken richtig leckeren Wein, wir essen trockenes Brot und kauen es, halten uns die Hände, stehen zusammen und nehmen uns auch die Zeit dafür. Aber in der Abendmahlsliturgie kommt ja immer: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd der Welt …“ Ehrlich gesagt, ich fand die Melodie immer ganz schön, ich hab das gerne gesungen, bis ich merkte, wie daneben das ist. Ich sag kein anderes Wort dafür, es ist daneben, denn je mehr ich das singe, desto mehr Blei lastet auf meinen Schultern, und ich werde immer kleiner. Ich werde nach unten gedrückt, das zieht mich nach unten.

Klaus-Peter Jörns: Man sieht’s ja auch in den Gesichtern.

Hans Mörtter: Die sind nicht fröhlich.

Klaus-Peter Jörns: Die Abendmahlsveranstaltungen sind eher Trauerfeiern. Doch eigentlich geht es beim Abendmahl überhaupt nicht um Sünde, das ist überhaupt kein Thema, das ursprünglich zum Abendmahl gehört hätte. Abendmahl ist die Feier der Lebensgaben Gottes – Brot und Wein, dafür steht es. Das sind die Grundlebensmittel, und zu diesen materiellen Lebensmitteln kommen die geistigen Lebensgaben hinzu, die man empfängt aus Literatur, aus dem Zusammenleben mit Menschen und aus der Jesus-Überlieferung. Das sollte im Gottesdienst gefeiert werden. Aber über den Weg der Sühnetheologie und über die Deutung des Todes Jesu als ein Sühnegeschehen ist dann diese Sündenvergebung in das Abendmahl hineingekommen, und dadurch ist es im Grunde verdreht worden, wirklich im Inneren verdreht worden. Diese Verdrehung besteht darin, dass man sich nicht über die Lebensgaben Gottes freuen kann, sondern dass man als armer Sünder da hingehen muss, um Vergebung zu bekommen. Das ist nicht die Kraft, die wir brauchen. Womit ich nicht sagen will, dass es keine Schuld gäbe oder dass das alles nicht wichtig wäre; natürlich ist das wichtig. Aber das Abendmahl ist nicht der Ort, wo es hingehört. Wir brauchen diese Lebensgaben, um Kraft zu bekommen, auch unsere Seele zu stärken und nach dem, was uns wichtig ist, zu leben – das stimmt.

Hans Mörtter: Da ist die Kraft herausgenommen. Es geht darum, miteinander zu teilen und miteinander zu essen. Das ist etwas sehr Sinnliches, und es steht für etwas, was ich nicht erklären kann, dass es eine Kraft des Lebens gibt, die unzerstörbar ist, die zu mir gehört, wo wir nicht trennbar sind. Deswegen geben wir uns auch die Hände. Das ist gut. – Noch mal konkreter zur Opfertheologie: Wir haben hier ein Kreuz aus den 1960er Jahren. Wir müssen das immer wieder sagen, damit es wirklich jemand begreift, da hängt nicht der Gekreuzigte, sondern da hängt der Lebensweise, der Lebensspender, da hängt Zukunft, da hängt Neues, immer wieder Neues, immer wieder neu geboren, auch in uns, in uns hinein. Das ist es.

Klaus-Peter Jörns: Natürlich. Andererseits muss man aber auch sagen, das Kreuz hat insofern auch mit dem Kruzifixus seinen Sinn, als es uns die Tragik, die sich durch die ganze Weltgeschichte hindurchzieht, vor Augen führt: dass nämlich oft genug diejenigen, die wirklich nur Gutes wollen und Gutes tun und wie Jesus den liebenden Gott gegen den strafenden gesetzt haben, nicht honoriert, sondern im Gegenteil umgebracht werden. Denn wenn man Religion so versteht wie Jesus, kann man sie nicht mehr als Herrschaftsinstrument benutzen, sondern nur in ihrer dem Leben dienenden Funktion. Das hat Jesus mit diesem wunderbaren Satz (bei Markus im zweiten Kapitel am Ende) zum Sabbat gesagt: „Der Sabbat ist für den Menschen gemacht und nicht der Mensch für den Sabbat.“ Wir sind keine Gebotserfüllautomaten, die willenlos alles machen, was von uns gefordert wird – das ist in Diktaturen so, die alles nach den Wünschen der Diktatoren dirigieren. Aber das gilt nicht für das, was Gott von den Menschen und für die Menschen will; denn Religion hat zu dienen und nicht zu herrschen.

Hans Mörtter: Also lebensdienlich zu sein.

Klaus-Peter Jörns: Ja.

Hans Mörtter: In den ganzen Liturgien, besonders in der Passionszeit und ganz massiv am Karfreitag heißt es: Christus musste am Kreuz sterben und Gott seinen einzigen Sohn opfern, damit er uns Menschen lieben kann.

Klaus-Peter Jörns: Da steht das Menschenbild im Hintergrund, das dem Menschen unterstellt, Gottes Feind zu sein, wie Paulus das tut, weil er noch nichts von unserer Herkunft aus der Evolution weiß. Wir können heute, nachdem wir von dieser Entwicklung wissen, auch wissen, woher wir kommen. Wenn man das weiß und miteinbezieht, kann man sagen, welche Erbschaften aus der Evolution wir mit und in uns schleppen: Jeder Mensch, ob er will oder nicht, hat im Grunde noch die wilde Natur in sich, die wir aus unserer tierlichen Vorexistenz haben. Unser Gedächtnis ist ein ursprünglich tierliches Gedächtnis; aber was dem Tier als gut erscheint, ist nicht mehr das, was später den Menschen als gut erscheint, und da liegt im Grunde der Hauptkonflikt. Wenn wir wissen wollen, wo dies immer wieder im Alltag auftaucht, dann müssen Sie nur an sich selbst als Autofahrer und Autofahrerin denken, wenn sie so schön geborgen in dieser Kiste sitzen und beschleunigt weit über Menschenmaß hinaus. Dann passieren manchmal Dinge, von denen man hinterher nicht mehr begreifen kann, warum man das gemacht hat. Doch sie lassen sich ganz einfach dadurch erklären, dass in bestimmten Situationen die uns leitende Schicht unseres Gedächtnisses und Bewusstseins abgesenkt wird auf eine frühere Stufe, und dann übernimmt die wilde Existenz wieder das Steuer. Also denken Sie beim nächsten Mal daran, wenn Sie jemanden fragen, wo er sein Auto abgestellt hat; dann fragen Sie bitte nicht mehr: Wo stehst du? Denn diese Identifizierung von Ich und Auto ist Ausdruck genau dieser neu-zentaurischen Existenz, wie Peter Sloterdijk einmal so schön gesagt hat: Wir sind Neu-Zentauern: der Unterbau ist Auto, der Oberbau Mensch, und in dieser Symbiose zu leben, das ist ein schwieriges Spiel. Aber genau diese Vermischung führt den Menschen aus seinen Möglichkeiten, sich selbst zu kontrollieren, heraus und lässt eine Ethik der Selbstbeherrschung zu einer ganz großen Notwendigkeit werden. Da wir das im Verkehr nicht so gut können, ist es wirklich allerhöchste Zeit, dass das Autofahren weitgehend automatisiert wird. (Raunen).

Hans Mörtter: Genau, oder wir fahren einfach Fahrrad. – Ich will noch mal zur Sühneopfertheologie zurückkehren. Fakt ist: Gott ist niemand, der ein Opfer braucht, weil Gott Liebe ist, und Liebe ist bedingungslos. Das ist das Revolutionäre an Jesus von Nazareth, und deswegen war er so gefährlich – für die Systeme und die Machthaber der Zeit, und das geht bis heute so. Es geht um Ehrfurcht vor allem Leben, es geht um Albert Schweitzer, der mich auch sehr geprägt hat in meinem gedanklichen Wachsen und Reifen. Sie haben sich ja sehr intensiv mit einer verkorksten Schöpfungstheologie beschäftigt, die aus den Tieren Dinge macht.

Klaus-Peter Jörns: Ja. Es gibt nach der Sintflutgeschichte nicht nur den schönen Regenbogen als ein Zeichen der Treue Gottes zur Schöpfung. (Nachdem Gott gerade alles vernichtet hat, fällt es allerdings schon schwer, das als glaubwürdig zu empfinden.) Sondern die Menschen sollen sich auch sicher fühlen, weil Gott ihnen sagt: „Furcht und Schrecken vor euch komme über alle Tiere“ – vor euch Menschen –, sagt Gott und vermasselt damit im Grunde das Verhältnis zwischen Mensch und Tier für alle Zeit, also jedenfalls für diese jüdisch-christliche Zeit. Denn es ist eine Schreckensherrschaft, mit der die Menschen mit ihren Mitgeschöpfen umgehen sollen. Für die jüdische Religion und ihren Tempelkult war diese Herrschaft über die Tiere wichtig, weil man ja opfern musste und wollte und dafür Opfertiere brauchte. Folglich musste man sie töten können, und dieses Recht ist an dieser Stelle im Grunde schon grundgelegt. Aber genau an diesem Punkt hat Albert Schweitzer unser Denken umsteuern wollen. Sein Satz „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ weist in eine andere Richtung. Er sagt schonungslos und tränenlos: Das Leben ist ein Dilemma. Denn er redet nicht nur von dem Lebenswillen, der das Leben vorantreibt, sondern auch von dem Schmerz, der aus der Erkenntnis kommt, dass alle Lebewesen von anderen Lebewesen leben – ob das Tiere sind oder Pflanzen – wir brauchen etwas, um uns zu ernähren, und für die Tiere gilt dasselbe. Wenn man in die Tierwelt hineinschaut, wie sich Tiere gegenseitig töten, ist das alles andere als schön. Das Leben ist ein System, in das das Töten hineingehört, und es gibt nichts, womit man dem entgehen könnte. Es gibt eine sehr einleuchtende Theorie von Opferforschern, wonach die Ursache von Opferhandlungen darin liegt, dass die Menschen wussten, dass sie kein Recht dazu haben, ihre Mitgeschöpfe zu töten, dass sie sich aber von ihnen ernähren müssen. Deshalb gaben sie den Göttern oder Herrinnen des Lebens einen Teil ihrer Nahrung als Opfer zurück. Und so haben sie ihre innere Not ausgedrückt zu wissen, dass das Leben uns nicht gehört und wir dennoch nicht daran vorbeikommen zu töten.

Hans Mörtter: Sie geben dem Göttlichen etwas von dem, was sie zum Leben brauchen …

Klaus-Peter Jörns: … wieder zurück. Das ist aber etwas anderes als ein Sühneopfer.


Die Menschwerdung der Menschen


Hans Mörtter: Ja, klar. Ich finde ganz interessant, wie sehr wir durch unser Verhalten Einfluss nehmen könnten. Beim Eierkauf kann man fragen, woher die kommen und ob da männliche Küken geschreddert werden. (Das sind 50 Millionen jeden Tag). Sucht so lange, bis ihr den Laden findet, dessen Bauer dieses Unrecht nicht verübt. So fängt der Widerstand an, wir können ihn täglich praktizieren, wenn wir das Gefühl und das Bewusstsein für dieses schreiende Unrecht haben, und wie wir uns als Menschen über das erheben und uns dann innerlich, körperlich, seelisch deformieren. Wir können Mechanismen vermeiden, die uns als Menschen, die wir aus Liebe heraus geboren sind, nicht entsprechen.

Klaus-Peter Jörns: So ist das, genau. Man ist ja im Moment dabei, die Menschenrechte auch auf die Tiere zu übertragen, und das ist natürlich im Blick auf ein unbedingtes Lebensrecht ein sehr schwieriges Unterfangen: Wenn man den Tieren ein unbedingtes Lebensrecht zugestehen würde, dann dürfte generell nicht mehr getötet werden. Und da scheiden sich dann in den juristischen Lagern die Geister, ob die so weit gehen wollen oder nicht. Aber der erste Schritt, den wir vor einer solchen allgemeinen Erklärung der Tierrechte tun können, ist sicher, das Recht der Tiere auf eine wirklich artgerechte Haltung durchzusetzen. Da zeigt sich leider bei uns keine wirkliche Initiative. Ich habe nichts davon gelesen, dass in den Sondierungspapieren an diesem Punkt nun einmal Ernst gemacht würde. Nein, es wird immer palavert über diese Problematik, aber es wird kein entscheidender Schritt getan, weil Parteien und die Massentierhaltungslobby irgendwie – d. h. über ihre wirtschaftlichen Interessen – miteinander verbandelt sind, und dann passiert eben gar nichts.

Hans Mörtter: Genau, und das Fleisch muss sogar noch billig sein.

Klaus-Peter Jörns: Dann kommt die nächste Seuche, und dann werden auf einen Schlag 10.000 Tiere getötet, weil sie eben in einer solchen Riesenhalle vor Ansteckung überhaupt nicht bewahrt werden können. Natürlich könnte man die Tierhaltung anders organisieren, in sehr viel kleineren Betrieben und Ställen, aber nicht in solch riesigen Betrieben.

Hans Mörtter: Die Position des Menschen gegenüber allen anderen Lebewesen kritisieren Sie in der Gesellschaft für eine Glaubensreform. Es geht da um Gottes Ebenbürtigkeit?

Klaus-Peter Jörns: Ja. – Übrigens nebenbei: Wir suchen noch jede Menge Mitglieder. Am Ausgang liegen Flyer, die Sie mitnehmen können. – Ja, die Veränderung des Menschenbildes ist die entscheidende Aufgabe, an der wir arbeiten müssen, wenn wir den Lebensbezug für den Glauben wieder herstellen wollen. Für mich ist in diesem Zusammenhang, und weil wir kürzlich Weihnachten gefeiert haben, eines sehr wichtig: Weihnachten feiern wir die Geburt des Einen, der im Grunde wieder in die Rolle hineingesteckt worden ist, messianischer König Israels zu sein, auf den sich alle Hoffnungen richteten. Wenn Sie bei Jesus nachlesen, dann finden Sie aber das unglaublich Andere: Jesus hat den Titel „Sohn Gottes“, wenn Sie einmal Matthäus 5,9 angucken, hier nicht im Singular und auf sich allein bezogen verwendet, sondern in den Plural setzt. Das ist eine unglaubliche Geschichte, dass auf einmal alle, die Frieden stiften, Söhne Gottes genannt werden. Wenn man das Griechische kennt, weiß man, dass die maskuline Form „Söhne Gottes“ auch die feminine Realität mit einschließt. Also kann man zu Recht übersetzen: Diejenigen, die Frieden stiften, die „Friedenspoeten“ sind, wie es im Text heißt, die sind alle Söhne und Töchter Gottes. Das ist eine gewaltige Veränderung gewesen in der Religionsgeschichte, dass sich die Hoffnung nun nicht mehr nur auf den Einen richtet, nicht mehr alle auf den Einen warten, der kommt und es schon richten wird, sondern dass alle in die Verantwortung für dieses Leben und für die Zukunft einbezogen werden. Eine bessere Zukunft hängt an dem, was alle gemeinsam tun. Das ist eine unglaubliche Geschichte. Jede/r hat seine/ihre Aufgabe, egal ob groß oder klein oder Mann oder Frau oder was auch immer man an Differenzierungen nehmen will. Jede/r hat mit seinen/ihren Gaben daran Anteil – und wenn’s auch nur Gedanken sind, die sich nicht realisieren lassen, aber als Hoffnungen sind sie auch Antriebe, Energien, die vorantreiben, auch im evolutionären Sinn. Dann haben sie teil an einer Verbesserung der Welt, die man aber auch mit einem einfachen Wort „Menschwerdung der Menschen“ nennen kann. Denn die Menschwerdung der Menschen ist noch nicht abgeschlossen, sie geht weiter. Das lässt mich im Übrigen auch nicht verzweifeln, wenn ich den Fernseher anmache und diese ständige Katastrophenschau ansehe, die abends über alle hinweggeht. Das ist noch nicht der Endpunkt, wir haben noch andere Möglichkeiten, die wir aber nur kooperativ entwickeln können und nicht die einen gegen die anderen. Da müssen wir heraus.

Hans Mörtter: Ich sehe das bei den jungen Leuten, bei den 20- bis 28-Jährigen, dass da ganz viel im Umbruch ist, ganz viel passiert. Ich bin sehr, sehr froh, das beobachten und daran teilhaben zu können, ermutigen zu können, weil es mich selbst auch ermutigt, dass da wieder neue Bewegung in unserem Land in der jungen Generation ist. Das gab es lange nicht, und nun wird wieder neu nach Ethik und Werten gefragt. Das nehme ich einfach wahr, und das ist fantastisch. Eine ganz besondere Geschichte. – Es gibt einen jesuanischen Satz, der immer wieder Schrecken hervorruft. Er steht im Johannes-Evangelium: Wahrlich, ich sage euch, das, was ich getan habe, werdet ihr auch vollbringen, und ich sage euch, ihr werdet noch Größeres tun als das. Das ist eine Beauftragung, eine Bevollmächtigung, ihr könnt das, weil ihr alle Söhne und Töchter Gottes seid, und ihr seht an mir, Jesus, wohin das führt, nämlich in die Weite, ins Leben durch die Zerstörung hindurch. Die Zerstörung siegt nicht. Also geht und sucht das Leben immer wieder neu.

Klaus-Peter Jörns: Dazu könnte man Amen sagen.


Hans Mörtter: Es geht gar nicht anders, wir müssen politisch sein, weil es um Leben geht. Die politische Dimension unseres Glaubens oder der jesuanischen Ansage, die ist doch wirklich ganz klar mit dem Recht auf Leben.  


Klaus-Peter Jörns: Heil ist nichts, was unter Absehen vom Leben formuliert werden könnte. Man kann es natürlich tun, indem man einen Himmel über uns einzieht, in dem angeblich das eigentliche Leben spielt. Aber den haben wir inzwischen aufgegeben und begreifen, dass Heil und Himmel etwas ist, was in irdischen Zusammenhängen für Menschen erlebt und von ihnen auch mitgestaltet werden kann. Insofern ist dies unsere Aufgabe, und dazu gehört Politik. Ohne Politik, ohne Eingriff in die Sozialstrukturen, ohne Eingriff in die Verhältnisse der Geschlechter, der Völker untereinander kommen wir nicht weiter, sondern drehen uns weiter um die alten Probleme. Die sind schon in der Evolution der frühen Menschen zum Teil verhängnisvoll gewesen. Es gab irgendwann Gruppen, die den Egoismus der Einzelnen und der Einzelfamilien überwanden, indem sie in die Kooperation geführt und die Menschen miteinander verbunden wurden. Aber es hat sich dann sehr schnell herausgestellt, dass diese Gruppen wieder, wo es um ihre gemeinsamen Interessen geht, wie Individuen handeln, sehr egoistisch sind, und darüber sind wir immer noch nicht hinaus. Jetzt werden in Europa wieder die Nationalitäten hochgespielt, als wenn das heilige Güter wären; es wird die Gewaltenteilung abgeschafft, damit der Nationalismus, das Wir-Gefühl wie in „America First“ und was weiß ich alles, ausgelebt werden kann. Vor kurzem hat die CSU in Bayern auch schon Wahlplakate geklebt, auf denen „Bayern zuerst“ stand … (Gelächter). Das ist wieder der Rückfall in die Nicht-Kooperative. Was wir brauchen, ist das Gegenteil, und da muss Religion etwas tun, indem sie selbst begreift und lehrt, dass die Menschheit, wenn das Reden von Gott überhaupt einen Sinn haben soll, nur als Ganzheit verstanden werden kann. Nicht einmal das reicht aus, denn wir können ja auch nicht unsere Menschheit und unser Menschsein auf Kosten der anderen leben, indem wir deren legitime Rechte nicht achten. Wir müssen diese Ehrfurcht vor dem Leben – damit sind wir wieder bei Albert Schweitzer – viel, viel ernster nehmen und in die Politik hineinbringen. Dazu hört man aber von den Kirchen leider wenig. Es ist eben das Trauerspiel, das ein indischer Freund mir gegenüber einmal beklagt hat, der zwei Jahre in einem evangelischen Predigerseminar gearbeitet hatte und dann wieder nach Indien zurückgegangen ist: „Ihr seid eine Kirche, die sich im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt, und die Welt hat überhaupt nichts davon!“ Das sind Dinge, die wir noch nicht ernst genug nehmen. Worüber in den Kirchen gestritten wird, das ist im Grunde, und das heißt gemessen an den Belangen des Menschseins und des Leidens und der Leidensüberwindung, wirklich belanglos.

Hans Mörtter: Das ist unsere gnadenlose Welt, und ich finde, das darf nicht sein. Das passt nicht zusammen mit dem Gott, der Liebe ist. Da ist eine andere Richtung angesagt. Das haben Sie doch gesagt: Jeder Mensch hat ein Recht auf das, was er zum Leben braucht. Das ist eine wichtige Ansage. 


Klaus-Peter Jörns: So ist es. Nicht, was er verdient, sondern was er braucht.

Hans Mörtter: Genau, und wir sagen immer, der ist doch selber schuld – der Obdachlose, der Arbeitslose, der Flüchtling, soll er doch selber gucken, wie er klarkommt. Das ist nicht gut, und es geht anders. Deswegen haben wir die Reformation II ausgerufen und den Luther eingeschmolzen, die Playmobilfigur. Jetzt haben wir so richtig Fahrt aufgenommen und legen los. Das sind 95 Figuren, die wir eingeschmolzen haben, europaweit. Das Denkmal ins Fließen bringen, damit wir neu in Bewegung geraten. Das ist ein Kunstobjekt, und einen „Luther“ davon bekommen Sie geschenkt, weil Sie einer von denen sind, die Dinge in Bewegung bringen und uns zum Nachdenken anregen. Deswegen passt diese Form von Luther gut zu Ihnen. Danke, Herr Jörns!

Klaus-Peter Jörns: Danke!

Hans Mörtter: Ich halte die Gesellschaft für eine Glaubensreform für sehr wichtig, also werde ich jetzt auch Mitglied. Das hatte ich schon lange vor. Es ist wichtig, dass wir anders denken und das unter die Menschen bringen. Es ist längst Zeit. Danke euch für die Geduld!

Redigiert von Helga Fitzner und nachbearbeitet von Klaus-Peter Jörns

 

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Klaus-Peter Jörns stellt sich vor

„Die Kölner Südstadt ist mir gut bekannt: 1951 ist meine Familie in die Kaesenstraße gezogen, 1954 bin ich in der Kartäuserkirche konfirmiert worden, und von 1964 bis 1966 war ich Vikar im Kirchenkreis Köln-Süd in Brühl. Von 1968 bis 1978 war ich rheinischer Pfarrer in einer Hunsrückgemeinde. Ab 1978 habe ich Vikar:innen ausgebildet und von 1981-1999 in Berlin Praktische Theologie und Religionssoziologie gelehrt. So bin ich Schritt um Schritt hineingewachsen in das theologische Denk- und kirchliche Glaubenssystem. Doch als ich darin ‚angekommen‘ war, war es mir schon zu eng geworden, und ich suchte Wege nach außen. Geholfen haben mir dabei vor allem meine Frau, die mir als Psychoanalytikerin neue Perspektiven und damit eine Innenbetrachtung des kirchlichen Betriebes eröffnete, und meine Neugierde, die mich zu Ausflügen in andere Wissenschaften ermunterte und zu Engagements in sozialen Aktionen. In den letzten Jahren beschäftigt mich die Arbeit an dem Projekt, die Erkenntnisse der biologischen, kognitiven und kulturellen Evolution in die Theologie einzubringen und dadurch vor allem das Menschenbild zu verändern. Wenn es denn so ist, dass wir unsere tierliche Herkunft nicht hinter, sondern bleibend in uns haben, und dass die Evolution weitergeht, dann ist der gegenwärtige Zustand der Menschheit keinesfalls als Endpunkt der Menschwerdung anzusehen, sondern als Station auf dem Wege dahin. Alle Erwartungen an uns, hier und heute vollkommen „human“ und liebevoll zu sein, übersteigen dann aber unsere Möglichkeiten. Und die am Beginn jedes normalliturgischen Gottesdienstes geübte Praxis, uns erst einmal als Sünder anzureden, die nur deshalb ein Lebensrecht haben, weil Jesus für unsere Sünden gestorben sei, verbiegt unsere Seelen. 2012 habe ich mit anderen zusammen die „Gesellschaft für eine Glaubensreform“ (glaubensreform.de) gegründet, die helfen will, die längst fälligen Veränderungen an unseren Glaubensvorstellungen vorzunehmen. Hans Mörtter erscheint mir dabei ein ’natürlicher‘ Verbündeter zu sein.“