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Früher lebten Araber mit Juden und Christen zusammen - Dialoge über Palästina III

Abdallah Frangi  und Hans Mörtter beim Dialoge über Palästina in der Lutherische Köln / Foto: Lothar Wages
Abdallah Frangi und Hans Mörtter beim Dialoge über Palästina in der Lutherische Köln / Foto: Lothar Wages

Pfarrer Hans Mörtter lud den palästinensischen Diplomaten Abdallah Frangi zum Talkgottesdienst ein, weil dieser sich seit Jahrzehnten für eine friedliche und politische Lösung des Nahostkonfliktes engagiert. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat sich insbesondere in Deutschland für die Belange des palästinensischen Volkes eingesetzt. 

Das Gespräch fand am 23. September 2012 statt.

von
Hans Mörtter

Hans Mörtter: Herr Frangi, ich habe Ihr Buch „Der Gesandte“ gelesen (Besprechung siehe unten) und viel mehr erfahren und verstanden, als ich bis dahin über Palästina wusste. Sie beschreiben darin Ihren jahrzehntelangen Einsatz für Palästina und haben damit ein einzigartiges Insider-Dokument über den Nahostkonflikt geschaffen. Das Buch ist chronologisch geschrieben und beginnt mit Ihrer Kindheit. Da erzählen Sie: „In der Welt, die ich 1943 erblickte gab es keine Angst. Ich wuchs behütet auf, lebte unbefangen und wie im Paradies.“ Woran erinnern Sie sich?

Abdallah Frangi: Ich hatte als kleines Kind noch keinen Krieg erlebt. Wir lebten am Rande der Negev-Wüste und hatten alles im Überfluss. Wir besaßen Land, das wir von unseren Vorfahren geerbt hatten, und uns gehörten genügend Schafe, Pferde, Ziegen und Kamele. Wir haben das Land bebaut, aber nur so viel, wie wir zum Leben brauchten.

Hans Mörtter: Ich erinnere mich an die 70-er und 80-Jahre, wo ich immer gehört und auch geglaubt hatte, dass die Araber keinen großen Verstand hätten und die Wüste erst von den Israelis grün gemacht worden wäre.

Abdallah Frangi: Viele Flächen waren schon vorher grün. Die Leute pflanzten, was sie zum Lebensunterhalt brauchten. Die Zahl der Menschen war damals noch nicht so groß, dass weite Flächen urbar gemacht werden mussten. – Aber man weiß heute, dass es schon zu Zeiten der Kanaaniter Olivenbäume in Palästina gab. Und wir freuen uns darüber, dass gerade der Olivenbaum später auch in anderen Ländern gepflanzt wurde.

Hans Mörtter: Die Familienbande zwischen den Generationen beschreiben Sie als sehr eng. Ihre Mutter hat Sie Abdallah nach Ihrem Großvater mütterlicherseits benannt. Der war als Meuterer gegen die osmanische Herrschaft zum Tode verurteilt worden. Ihre Mutter wurde als kleines Mädchen dazu gezwungen zuzuschauen, wie ihr Vater mit einem Lkw zu Tode geschleift wurde. Ist da ein Gen Ihres Widerstand leistenden Großvaters auch in Ihnen?

Abdallah Frangi: Das ist durchaus möglich, eine direkte Rolle für meinen späteren politischen Einsatz hat aber mein Vater gespielt, der sich der Fremdherrschaft der Engländer widersetzte und dabei schwer verwundet wurde, so dass er eine Gehbehinderung zurück behielt. Zu ihm habe ich aufgeschaut, ihn habe ich gespürt. Er wurde nicht nur innerhalb der Familie, sondern allgemein von der Gemeinschaft respektiert. Er war immer hilfsbereit, nicht nur den Angehörigen unseres Stammes, sondern auch Fremden gegenüber. Diese Eigenschaften, Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit, hat er an uns weitergegeben. Ihm war wichtig, dass wir auf unseren Stolz achten und unsere Würde nie verlieren. Er war sehr religiös, hat uns ethische Werte vermittelt und darauf geachtet, dass wir niemandem weh tun. Wir sollten anderen nichts antun, was wir selber nicht angetan bekommen wollten.

Hans Mörtter: Ihr Vater war ein besonders edler Mensch. Er war als Scheich so eine Art von Fürst und übte soziale und religiöse Toleranz aus.

Abdallah Frangi: Wir wurden so erzogen, alle drei monotheistischen Religionen in uns aufzunehmen und unseren Kindern Namen zu geben, die Verbindungen zu allen drei Religionen widerspiegelten. Wir sehen uns als das Volk, das ursprünglich in diesem Gebiet gelebt hat, angefangen von den Kanaanitern und auch den nachfolgenden Völkern. So ist das Zusammenleben mit Juden und Christen Bestandteil unserer Geschichte.

Hans Mörtter: Sie erzählen in Ihrer Biografie auch davon, dass in den Gutenacht-Geschichten ihrer Mutter immer das Gute siegte. Nie gewann der Teufel die Oberhand. So wächst ein Kind in dem Glauben auf, dass das Böse auf Dauer keine Chance hat und man selbst schlechtesten Menschen ihre Bosheit nachsieht.

Abdallah Frangi: Meine Mutter hat sieben Jungen und drei Mädchen geboren. Sie war Analphabetin, aber sie war in der Lage, diese Geschichten und Märchen so zu erzählen, dass wir immer gespannt darauf warteten. Wer Glück hatte, saß auf ihrem Schoß, hatte seinen Kopf auf dem Schoß oder lehnte den Kopf an ihre Schulter. Diese Geschichten erzählte sie nicht zufällig, sie wollte uns Kindern damit etwas vermitteln. Ein Held war immer der Gute, der Mutige, der den Schwachen und Armen hilft, der gegen einen brutalen König rebelliert. Diese Märchen waren sehr schön und sie blieben irgendwie im Kopf, auch als ich älter wurde. 1948 änderte sich jedoch mein Leben, ich war fünf Jahre alt und meine Kindheit war jäh zu Ende. Wir wurden vertrieben, mussten fliehen und von nun an im Flüchtlingslager leben. Auch das Leben meiner Mutter, meiner ganzen Familie hatte sich so dramatisch verändert, dass es solche Erzählungen nicht mehr gab.
Plädoyer für eine gewaltfreie Konfliktlösung

Hans Mörtter: Kommen wir zur Nakba, der Vertreibung von 760.000 Palästinensern, als 1948 der Staat Israel gegründet wurde.

Abdallah Frangi: Ja, Nakba, die „Katastrophe“ für uns Palästinenser, war eine Folge des Holocausts, der in Europa stattfand. Im arabischen Raum hat es keine Judenverfolgung oder Judenvernichtung gegeben. Palästina war nicht antijüdisch. Wir waren auch nicht antisemitisch, weil wir selbst und die meisten Menschen in den umliegenden arabischen Ländern auch Semiten sind. – Aber als man gesehen hat, dass die europäische Politik, allen voran England, Frankreich und Italien, in Palästina einen jüdischen Staat auf Kosten der Palästinenser gründen wollte, zeichnete sich zunehmend ab, dass das nicht friedlich und ohne Widerstand möglich sein konnte. Die Zionistische Bewegung hat sich mit England und Frankreich verbündet. Sie hatten das Geld und Unterstützung von außerhalb, die Armeen waren fortgeschrittener als unsere, so dass wir völlig unterlegen waren. Aber die Palästinenser wollten ihre Heimat nicht aufgeben, ohne sie verteidigt zu haben. So haben die Palästinenser versucht sich zu wehren, aber leider wurden sie damals von der arabischen Welt nicht unterstützt.

Hans Mörtter: Auch das hatte seine Vorgeschichte.

Abdallah Frangi: Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches wurden durch die Kolonialmächte England und Frankreich die arabischen Staaten künstlich geschaffen. Das Sykes-Picot-Abkommen hatte 1916 willkürliche Landesgrenzen gesetzt, dazu gehörten auch Palästina und Jordanien. So kam es seit 1920 immer wieder zu Aufständen seitens der Palästinenser gegen die jüdische Besiedlung. Aber viele der Regierungen der umliegenden Staaten haben die Siedlungspolitik der Kolonialmächte akzeptiert, weil ihnen diese Möglichkeit sicherer erschien und sie keine Macht verlieren wollten. Weltweit war man verwundert, wie es möglich war, dass 100.000 Juden die 100 Millionen Menschen im arabischen Umfeld besiegen konnten. Damals gab es keine richtige arabische Einheit, und die wirkliche Kontrolle über Palästina hatten die Engländer und die Franzosen übernommen. Diese Umstände haben dazu geführt, dass der Widerstand der Palästinenser erstickt wurde. Das führte 1948 zur Staatsgründung Israels. Die ersten arabischen Armeen, die nach Palästina kamen, um uns zu unterstützen, damit uns nicht noch mehr Land weggenommen wurde, stammten aus sieben arabischen Staaten, die zusammen aus lediglich 20.000 Soldaten bestanden. Darunter waren Ägypten, Jordanien, Libanon, Syrien und Saudi-Arabien. Dem gegenüber standen aber 65.000 gut ausgebildete und bewaffnete Kämpfer der Zionistischen Bewegung. Das führte dazu, dass die Vertreibung der Palästinenser systematisch und ohne effektive Gegenwehr stattfinden konnte.
Hier wird deutlich, dass die Führer der arabischen Länder die Lage unterschätzten und keinen vollen Einsatz gezeigt haben. Danach gab es immer wieder Revolutionen gegen den Einfluss der Europäer in den arabischen Staaten. Nach der Sueskrise 1956, als Ägypten von England, Frankreich und Israel überfallen wurde, hat man auf einmal gemerkt, dass es eine neue Entwicklung in dieser Region gab. Die USA hatten England und Frankreich aus dem Nahen Osten verdrängt. Im Laufe der Zeit, vor allem nach dem Juni-Krieg von 1967, wuchs der Einfluss der Zionistischen Bewegung in den USA und das ist bis zum heutigen Tag so geblieben. Die USA stehen einseitig auf Seiten der Israelis und das ist für uns Palästinenser und für den Frieden in dieser Region ein großes Problem. Durch diese Entwicklung hat sich der Hass und die Ablehnung gegen den Einfluss der Europäer und vor allem der USA verstärkt. In meinem Buch „Der Gesandte“ bin ich ausführlich auf diesen Punkt eingegangen und möchte mich an dieser Stelle bei meiner Frau bedanken, die mich dazu bewegt und auch unterstützt hat, dieses Buch zu schreiben. Ich habe versucht, nicht nur den Konflikt zu beschreiben, sondern auch für eine gewaltfreie Konfliktlösung zu plädieren. Allerdings gehörte ich nach dem Sechstagekrieg 1967 zu den ersten Kämpfern, die freiwillig nach Palästina gingen, um gegen die Besatzungsmacht Israel und für die Freiheit der Palästinenser zu kämpfen.

Hans Mörtter: Dazu muss man sagen, dass Sie kein erfolgreicher Kämpfer waren, denn bevor es zum Schießen kam, wurden Sie schon verhaftet. Die israelischen Offiziere haben Sie im Laufe Ihrer Haft auch mit Überlebenden des Holocausts zusammengebracht.

Abdallah Frangi: Ja, genau. Das ist auch einer der Gründe, warum ich mich heute für eine Zweistaatenlösung einsetze, damit wir diesen Krieg nicht weiterführen müssen. Ich bin seit diesen Erlebnissen in jungen Jahren nicht mehr bereit, eine militärische Konfrontation zu unterstützen oder dafür zu plädieren. Aber auf der anderen Seite, werde ich keinen Millimeter von der Überzeugung abweichen, dass der Frieden im Nahen Osten nur stattfinden kann, wenn wir einen eigenständigen, lebensfähigen Palästinenserstaat neben dem israelischen Staat gründen. Für uns ist auch die Anerkennung der Nakba im Jahr 1948 wichtig. Die Vertreibung von über 760.000 Palästinensern und die Zerstörung von über 800 Dörfern, die wie vom Erdboden verschwunden sind, kann nicht einfach vergessen werden. Hier müssen wir eine Lösung finden.

„Aber die Grenzen von 1967 existieren nicht mehr“

Hans Mörtter: Das Schöne ist, dass es eine Gruppe jüdischer Israelis gibt, die nach den alten Dörfern sucht und nach ihren arabischen Namen fragt. Eine solche Initiative gibt es.

Abdallah Frangi: Es gibt Israelis, die in dieser Konfrontation Stellung für uns beziehen. Sie haben ihr Gewissen entdeckt, stehen auf unserer Seite und unterstützen uns. Aber die Mehrheit der Israelis steht zur Militär- und Siedlungspolitik von Sharon (Ariel Sharon war von 2001 bis 2006 israelischer Ministerpräsident) und jetzt von Netanjahu und Ehud Barak. Trotzdem habe ich die Hoffnung, dass die öffentliche Meinung überall in der Welt sich zugunsten der Bildung eines palästinensischen Staates ändert. Voraussetzung hierfür ist, dass Israel seine Grenzen festlegt, damit wir wissen, welche Gebiete genau zu Israel und welche den Palästinensern gehören. In dem Osloer Abkommen von 1993 haben wir uns damit einverstanden erklärt, die Grenzen von 1967 zu akzeptieren. Damit stehen uns nur 23 Prozent vom historischen Palästina zu. Israel sollte 74 Prozent des Gebietes zugesprochen werden. Über die restlichen 3 Prozent, Jerusalem und Umgebung sollte später gemeinsam verhandelt werden. Aber die Grenzen von 1967 existieren in dieser Form nicht mehr. Durch die Mauer und den Neubau von jüdischen Siedlungen auf unserem Gebiet ist eine Grenzziehung, wie im Osloer Abkommen vereinbart, nicht mehr möglich. Wir wissen überhaupt nicht, wo wir einen Palästinenserstaat gründen sollten. Außerdem wurden durch die Mauer und die neuen Siedlungen weitere 10 Prozent unseres Landes einfach besetzt und Gebiete enteignet.

Hans Mörtter: Mit der Unterzeichnung des Abkommens von Oslo fand ein Paradigmenwechsel statt. Die PLO war erstmalig dazu bereit, den Staat Israel und die Grenzen von 1967 anzuerkennen. Das war nicht immer so. Es hatte auch gewalttätige Flügel gegeben, die mit Terrorakten, Flugzeugentführungen und diesen schrecklichen Selbstmordattentaten glaubten, eine gewaltsame Lösung des Konflikts herbeiführen zu können. Das hat dem Ansehen der PLO insgesamt sehr geschadet.

Abdallah Frangi: Ja, es gab Palästinenser, die mit dem Oslo-Abkommen nicht einverstanden waren, vor allem, weil keine Fortschritte in der Umsetzung zu sehen waren und sich die Lebensbedingungen der Palästinenser immer mehr verschlechtert haben. So kam es auch, dass, als im Jahr 2006 unter internationaler Beobachtung die ersten demokratischen Wahlen zu einem palästinensischen Parlament abgehalten wurden, Hamas als Wahlsieger hervorging. Nun hätte die Weltgemeinschaft Hamas in die Pflicht nehmen müssen. Stattdessen kam es nach ihrem Wahlsieg zu einer Blockadepolitik im Gazastreifen, die dazu führte, dass 1.700.000 Menschen isoliert wurden, so dass sie bis heute in einem Gefängnis leben und nicht in der Lage sind, ein normales Leben zu führen. Wenn man isoliert ist, wenn man kein Brot und kaum Wasser hat, wenn man keine Elektrizität hat, wenn man nicht ein- und ausreisen kann, wenn so viele Menschen auf einer Fläche von 364 Quadratkilometer festgehalten werden, ist das ein Zustand, der insbesondere bei den jungen Menschen mehr Radikalität als friedliches Denken produziert.

Hans Mörtter: Die Palästinenser waren gespalten. Es gab die PLO, die Fatah, die Hamas und den gewalttätigen Flügel der Al-Aqsa-Brigaden. Sie haben versucht zu vermitteln, aber das ist schwierig und die Friedensverhandlungen werden immer wieder gefährdet.

 

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Abdallah Frangi, Benita Frangi und Hans Mörtter nach dem Talkgottesdienst über Palästina in der Lutherkirche Köln / Foto: Lothar Wages

 

Abdallah Frangi: Das ist nicht verwunderlich. Wir haben 1993 das Osloer Abkommen unterschrieben, den Staat Israel anerkannt und sollten 1998 einen Palästinenserstaat proklamieren. Leider haben wir keinen Partner auf der anderen Seite. Die Friedensbewegung in Israel erlahmte nach dem gewaltsamen Tod des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, der 1995 von einem jüdischen Fanatiker ermordet wurde. Heute, 19 Jahre nach dem Abkommen, haben wir immer noch keinen Partner auf der israelischen Seite. Es gibt eine Strömung, die von Benjamin Netanjahu und dem israelischen Außenminister Avigdor Lieberman betrieben wird, die dem entgegenwirkt. Sie intensivieren die Siedlungspolitik derart, dass heute in der West Bank, wo ein lebensfähiger Palästinenserstaat entstehen sollte, bis heute 300.000 bis 350.000 neue jüdische Siedler leben und die Mauer ein weiteres Hindernis darstellt, da sie auf palästinensischem Gebiet errichtet wurde. Die Mauer trennt Palästinenser von Palästinensern, Palästinenser von ihrem Land, palästinensische Familien voneinander. Die jüdischen Siedlungen aber haben ihre eigenen Straßen, die wir Palästinenser nicht benutzen dürfen. Der vertraglich garantierte und von der Weltgemeinschaft unterstützte Palästinenserstaat wird erstickt, bevor er entstehen kann. Weil wir mit Verhandlungen nichts erreicht haben, wurde der Boden für eine Radikalisierung geschaffen.

Hans Mörtter: Jetzt sind die Jungen dran.

Abdallah Frangi: Genau. Aber die meinen natürlich, dass die Israelis nur die Sprache der Gewalt verstehen und sie deshalb gewaltsamen Widerstand leisten müssen. Daher glaube ich, die Militärs in Israel schüren bewusst eine bewaffnete Gegenwehr. Das gibt ihnen die Möglichkeit, gewaltsam gegen uns vorzugehen. Und da wir in jeder Hinsicht unterlegen sind und verlieren würden, wären sie in der Lage, alles zu zerstören, was wir von 1994 bis 2000 in der West Bank und im Gazastreifen aufgebaut haben. Im Jahre 2006 hat der ehemalige Ministerpräsident Sharon einen einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen vorgenommen, mit der Absicht, die Siedlungen in der Westbank auszuweiten. Das hat er auch getan.

Hans Mörtter: Ja, und die Fatah natürlich, deren gemäßigte Mitglieder der militanten Hamas überlassen wurden.

Abdallah Frangi: Nicht überlassen. Das war eine Konfrontation, und das ist ein schwarzer Punkt in der Geschichte der Palästinenser. Wir Palästinenser haben gegeneinander gekämpft und in diesen Jahren einen Bruderkrieg geführt. Die Hamas hat mit militärischen Mitteln und mit militärischer Stärke den Gazastreifen übernommen und regiert seit 2007 dort. Wir müssen unbedingt einen Versöhnungsprozess betreiben, um die Einheit der Palästinenser wiederherzustellen, damit wir eine gemeinsame Sprache sprechen, gemeinsame Ziele anstreben und Politik so betreiben, dass die Weltgemeinschaft auf unserer Seite bleibt und sich weiterhin für einen Palästinenserstaat einsetzt. Die jetzige Entwicklung in den palästinensischen Gebieten ist sehr gefährlich. Auch die Entwicklung in dem Rest der arabischen Staaten verläuft anders, als wir erwartet haben, der Ausgang ist unabsehbar. Man redet von Demokratie, aber ich habe Angst um diese Demokratie.

 

Friedliche Lösungen versus Waffenlieferungen


Hans Mörtter: Andererseits, wenn in Palästina „normale“ Verhältnisse bestehen würden, könnten – das ist meine persönliche Meinung – Ministerpräsident Netanjahu und einige seiner Mitstreiter wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt werden.

Abdallah Frangi: Die Friedensbemühungen haben allgemein nicht viel Rückhalt. Als Rabin soweit war, den Frieden zwischen unseren Völkern zu akzeptieren, wurden die Gegendemonstrationen so massiv, dass sein Haus belagert wurde. Das geschah mit Unterstützung von Sharon, Netanjahu und der Likud-Partei. Es bestehen durchaus Zweifel daran, dass Rabin „nur“ von einem verrückten Juden aus dem Jemen ermordet wurde. Vermutlich stand eine organisierte Gruppe hinter ihm, die auch im Staat Israel Einfluss hat. Leider haben diejenigen, die heute Israel regieren, die Friedenspolitik Rabins abgeschafft.

Hans Mörtter: Ihr Mentor, der PLO-Chef Jassir Arafat, soll über den Tod Rabins damals sehr bestürzt gewesen sein.

Abdallah Frangi: Ich saß damals mit Arafat und ungefähr 35 Leuten der PLO-Führung zusammen, als die Nachricht eintraf, dass Rabin ermordet worden war. Arafat hat vor allen Leuten geweint wie ein Kind. Ein Palästinenser hat sich aufgeregt: „Warum weinst du um Rabin?“ Arafat antwortete: „Du verstehst nicht. Wir haben unseren Partner für den Frieden verloren, und die Zeit wird zeigen, dass wir keinen Partner in Israel haben werden, der seine Rolle weiterhin spielen kann.“ Der Tod von Rabin war leider ein dramatischer Wendepunkt. Unsere Hoffnung ist jetzt, die Unterstützung der Europäer zu bekommen, damit wir noch eine Chance für den Frieden haben. Im Jahr 2009 hatten wir schon einmal große Hoffnung. Da hat der amerikanische Präsident Obama zwei wichtige politische Aussagen gemacht, die ich nie vergesse: „Die Siedlungspolitik gefährdet den Frieden in dieser Region und muss gestoppt werden, und die Palästinenser müssen einen Palästinenserstaat haben.“ Das hat er in der Universität in Kairo und vor der UNO gesagt. Nun muss er auch zeigen, dass er zu seinem Wort steht, dann bekommt er Respekt und hat seinen Friedensnobelpreis zu Recht bekommen.

Hans Mörtter: Sie waren eng befreundet mit dem von mir sehr verehrten jüdischen Dichter Erich Fried, dessen Schriften mich in meiner rebellischen und erotischen Jugendzeit begleitet haben. Der hat in einem Gedicht geschrieben: „Höre Israel, als wir verfolgt wurden, war ich einer von euch. Wie kann ich das bleiben, wenn ihr Verfolger werdet?“ – Durch Ihr ganzes Leben hindurch zieht sich Mord und Gewalt. Sie selber standen auf der Todesliste von Abu Nidal und haben Glück gehabt, Ihre Freunde alle nicht. Abu Dschihad wurde in Tunis feige mit 70 Schüssen ermordet. Sie sagen selber, was für ein Hass dahinterstehen muss, einen Menschen mit 70 Schüssen zu zerfetzen. Sie haben auch immer wieder die Massaker in Flüchtlingslagern, die Angriffe, die Unverhältnismäßigkeit der militärischen Gewalt gegen ihr Volk erlebt. In Ihrem Buch schreiben Sie: „Die Geschichte dieses Konflikts ist durchsetzt von Augenblicken der Hoffnung, in denen wir uns vor Freude kaum fassen konnten. Und von Phasen nackten Entsetzens, die alle seelischen Kräfte aufzuzehren drohten. Wer da nicht kapituliert, muss mit einem schier unmenschlichen Durchhaltevermögen gesegnet sein.“ Hatten Sie das? Woher nahmen und nehmen Sie die Kraft, nicht zu verzweifeln?

Abdallah Frangi: Natürlich heute, wenn man die Entwicklung in Israel sieht, hat man keine Hoffnung. Aber die Hoffnung darf man nicht verlieren, sie muss weiter in den Herzen und Köpfen der Menschen existieren, damit wir einfach die Fähigkeit besitzen, die Zukunft zugunsten des Friedens zu ändern. Wenn wir darauf beharren, dann werden wir es schaffen und Leute motivieren, in Israel das Gleiche zu tun – auch wenn das heute nicht so aussieht, wie ich es hoffe und mir erwünsche. Aber es gibt viele Juden, die uns unterstützen. Ungefähr 20 Prozent der Mitglieder in den Menschenrechtsorganisationen in Palästina sind Juden. Sie lehnen es ab, dass die Palästinenser weiterhin besetzt und verfolgt werden und setzen sich für die palästinensischen Gefangenen ein. Wir haben heute 5.000 Menschen in den israelischen Gefängnissen, die zum Teil seit 30 bis 40 Jahre im Gefängnis sitzen. Aber auch wir Palästinenser sind verpflichtet, den Versöhnungsprozess zwischen der Hamas und Fatah voranzubringen.

Hans Mörtter: Die Weltgemeinschaft ist aber auch gefordert.

Abdallah Frangi: Ja, es ist sehr wichtig, dass zum Beispiel die Europäische Union sich an ihre eigene Charta hält, die sie im Jahr 2010 geschrieben hat. Darin ist von Menschenrechten, von Menschenwürde, von Freiheit und von Gerechtigkeit die Rede. Diese Charta sollte auch für die palästinensischen Gebiete gelten. Die Europäer sind aufgefordert, keine Waffen in diese Region zu exportieren. Denn man kann nicht friedliche Lösungen verlangen und gleichzeitig Waffen liefern, egal ob das jetzt U-Boote, Raketen oder Flugzeuge sind. Nein. Die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkrieges hat uns doch gelehrt, dass man mit Waffen keine Gerechtigkeit und keinen Frieden schaffen kann.
Ich möchte aber noch zwei andere Punkte erwähnen, um die Hoffnung auf Frieden zu stärken: Als 1982 Sharon den Libanon überfallen hatte, um die PLO zu vertreiben, da waren 400.000 Israelis auf der Straße – gegen Sharon. Das ist ein gutes Zeichen und zeigt, dass es Menschen gibt, die diese Politik des Krieges nicht haben wollen. Auch noch nach diesem Krieg im Libanon haben die Falangisten mit Unterstützung der israelischen Armee die Massaker in Sabra und Schatila begangen. Das waren grauenhafte Bilder. Bemerkenswert hierbei ist, dass der Erste, der darüber geschrieben hat, ein israelischer Journalist, nämlich Amnon Kapeliouk, war.
Wir halten hier gerade einen Gottesdienst ab. Ich glaube nicht, dass Gott nur eine Sprache spricht oder nur eine Gruppe geschaffen hat, in deren Auftrag er arbeitet. Ich glaube aber, dass die meisten Zionisten, die behaupten, dass Gott ihnen das Land gegeben hat, gar nicht an Gott glauben. Aber sie glauben fest daran, dass Gott ihnen das Land geschenkt hat. Das ist paradox und das kann deshalb nicht lange andauern. Ich werde weiterhin aktiv für die Einheit der Palästinenser arbeiten. Ich will zeigen, dass wir ein fleißiges und ein friedliches Volk sind und dass wir einen Staat Palästina neben dem Staat Israel gründen möchten. Dafür wollen wir hart arbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir zum Schluss von vielen Menschen überall in der Welt unterstützt werden. Dann wird der Tag kommen, an dem viele Israelis einsehen, dass die jetzige Politik der israelischen Regierung keine Zukunft hat und die Sicherheit Israels nicht garantiert.

Hans Mörtter: Wir müssten gegenüber der Militär- und Siedlungspolitik der Regierung Netanjahu viel deutlicher Position für die Palästinenser beziehen, weil diese Politik den Wahnsinn und den Terror nur forciert. Wir müssten auch über die Verhängung von Sanktionen gegenüber der israelischen Regierung von europäischer Seite aus nachdenken. Das wäre aber ein schwerer Tabubruch und man würde direkt wieder als Israel-feindlich gelten. Ich denke, dass es an der Zeit ist, dass wir Deutsche da viel konsequenter an die Politik in den 1980er-Jahren von Hans-Jürgen Wischnewski anknüpfen. Es sollte unsere Sache sein, mutig nach dem Frieden zu greifen, auch wenn das einen gewaltigen Konflikt mit der israelischen Regierung bedeutet, auch wenn wir in ein schiefes Licht geraten würden.

Abdallah Frangi: Ich hoffe erst einmal, dass man in Deutschland in der Lage sein wird, die israelische Politik zu kritisieren, ohne als Antisemit beschimpft zu werden. Wenn man die Menschenrechtsverletzungen der Israelis kritisiert, dann hat man als Deutscher, der von seiner Geschichte gelernt hat, auch das Recht, für die Menschenrechte einzustehen, egal von wem sie missbraucht werden. Ich glaube auch, dass die bisherige Politik der Palästinenser, die von Jassir Arafat und auch die von Mahmud Abbas, dazu beigetragen hat, dass radikale Gruppen wie Al Qaida in vielen islamischen Ländern keine große Zustimmung haben. Wenn wir es schaffen, einen unabhängigen Palästinenserstaat zu schaffen, dann könnte der Einfluss auf die gesamte Umgebung in Syrien, im Libanon, im Irak, und ich wage sogar zu sagen, in Afghanistan, ein stabilisierender sein.
Es gibt viele Menschen, die sich mit Palästina verbunden fühlen, nicht nur weil sie sich für die Freiheit der Palästinenser einsetzen, sondern weil Palästina ein Symbol des Christentums, des Islams und des Judentums ist. Das ist die Geschichte von allen drei Religionen, und wenn wir für einen Frieden zwischen Israel und Palästina sorgen und diese zwei Staaten miteinander die Zukunft gestalten, dann können wir miteinander reden und auch wirtschaftlich zusammenarbeiten. Denn beide Völker sind so miteinander verflochten, dass es sehr schwer ist, sie zu trennen. Wenn wir Palästinenser die Chance zu unserer Eigenständigkeit, unserer Freiheit und unseren Entscheidungen bekommen, dann wird auch Israel davon profitieren und dann wird auch die radikale Politik Israels in dieser Region nicht mehr Fuß fassen können.

Hans Mörtter: Die Zukunft unserer Erde, unser aller Zukunft entscheidet sich, glaube ich, im Nahen Osten. Als Schlusssatz möchte ich einfach nur sagen: Herr Frangi und Frau Frangi, dass es Sie beide gibt, das ist ein großes Geschenk an uns Menschen, weil sie beide eng verschworen nie aufhören, den Frieden und die Begegnung zu suchen. Also ich ziehe einfach meinen Hut und verneige mich von Herzen vor Ihnen. Vielen Dank für dieses Gespräch, Herr Frangi.

 

Redigiert von Helga Fitzner