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Tangogottesdienst, mit Tango-Musik und Tanz

Tangogottesdienst 2017, mit Ricardo Samjo und Tangopaar Kathrin  und Andre / Foto: Sonja Grupe
Tangogottesdienst 2017, mit Ricardo Samjo und Tangopaar Kathrin und Andre / Foto: Sonja Grupe

Warum Tango-Gottesdienst? Im Tango Argentino vereint sich alles, was das Leben ausmacht. Sehnsucht, Einsamkeit, Leidenschaft, Erotik und Wut. Es ist ein Tanz, der sich zwischen Beherrschung und Unterwerfung abspielt, zwischen Begehren und Zurückweisung. Tango ist aber vor allem der getanzte Traum von einem besseren Leben.

von
Helga Fitzner

Der Tango Argentino entsteht Mitte des 19. Jahrhunderts in Buenos Aires und anderen argentinischen Hafenstädten. Dort kommen Menschen verschiedener Abstammung zusammen: Indios, Kreolen, Europäer. Sie gehören keiner bürgerlichen Oberschicht an. Die meisten sind Glückssucher, die der Armut und Hoffnungslosigkeit entrinnen wollen. So entsteht ein Tanz, der genau dieses Lebensgefühl widerspiegelt. Da sind die Gegensätze, die aus der multi-ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung entstehen, das soziale Elend, die Kriminalität und das Verlassensein. Viele der männlichen Europäer sind allein gekommen und wollen ihre Familien irgendwann nachholen. Den Tango tanzen sie meist mit Freudenmädchen, weil die den engen Körperkontakt zulassen, der aber im 19. Jahrhundert ein eklatanter Tabubruch ist. Der neue Tanz ist gesellschaftlich nicht akzeptabel, er stammt aus den Hafenkaschemmen und Bordellen. Erst ein halbes Jahrhundert später wird er in stark reglementierter Form als Standardtanz Tango (ohne Argentino) salonfähig.

Tango Argentino wird immer dann aktuell, wenn sich wirtschaftliche und gesellschaftliche Krisen auftun. Er ist ein Spiegel der Unsicherheit und Zerbrechlichkeit einer Welt, die sich in rasender Geschwindigkeit verändert. Der Tango Argentino symbolisiert enttäuschte Erwartungen, die Sehnsucht nach Heimat und Zuhausesein. Seit 2003 veranstaltet die Lutherkirche regelmäßig Tango-Gottesdienste. „Wie das gehen sollte, wussten wir am Anfang auch nicht so genau“, erklärt Mörtter. „Die ersten zwei Tango-Gottesdienste habe ich mit Gustavo Llano gestaltet, der auch im ZDF-Fernsehgottesdienst bei uns getanzt hat“, erinnert er sich „In seinen Tänzen hat Gustavo auch schon ‚Flüchtlingsströme’ thematisiert. Und dann noch ‚Palästina’. Ich habe das ‚Mensch ohne Erde, ohne Heimat’ genannt. Und es hat geklappt. Mehr als 250 Menschen haben das begeistert und berührt miterlebt. Am Ende wagten sogar einige ein Tänzchen. Vielen von uns ging es so: Noch Tage danach waren wir erfüllt von Energie und Kraft.“

P. S.: Der vorerst letzte Tangogottesdienst fand im Jahr 2019 statt. Pfarrer Hans Mörtter wurde 2022 entpflichtet.
 

Es finden sich immer wieder wundervolle Musiker ein, die einzig in diesem Gottesdienst zusammen spielen. Immer dabei ist unser Kantor Thomas Frerichs. Maßgeblich an der Konzeption des Gottesdienstformats beteiligt war das Tangopaar Kathrin & André (mehr zu ihnen, siehe unten).

Das Format des Tango-Gottesdienstes wurde von der EKD, der Evangelischen Kirche Deutschlands, als Beispiel guter Praxis gewürdigt, im Rahmen von „Kirche im Aufbruch“. 

 

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Tangopaar Kathrin und Andre, Gottesdienst 2017 / Foto: Helga Fitzner

 

Interview mit dem Tangopaar Kathrin und André

Das Tangopaar Kathrin & André gestaltet seit vielen Jahren regelmäßig den Tangogottesdienst mit. Kathrin Rosner (* 1975 in Bochum) und André Langfeld-Rosner (* 1967 im Kölner Severinsklösterchen) tanzen schon seit 1990 zusammen. Beide hatten als Teenager mit der Tanzschule angefangen und machten später gemeinsam Turniertanz. 1997 lernten sie den Tango Argentino kennen, den sie seit 1998 auch unterrichten. Da der sich von der Turniersportart Standardtanz erheblich unterscheidet, verschrieben sie schon bald dem Tango Argentino, weil sie dort Improvisationen, Ausdruck und Gefühl einbringen können, was im Standardtanz in der Form nicht möglich ist.

Ihre Tangolehrerin Norma Raimondi lehrt sie zusätzlich Modern Dance und die Russin Inna Aleksiev vom Bolschoi-Ballett unterrichtet sie im Klassischen Ballett. „Das ist nötig für die Bühnenpräsenz, wenn man in einer Show einen ganzen Abend lang bestehen will“, sagt André.

2006 kam der Kontakt zu Pfarrer Hans Mörtter von der Lutherkirche zustande. Da gestalteten sie das erste Mal den Tango-Gottesdienst mit. „In den Tango-Gottesdiensten versucht Hans Mörtter immer wieder, etwas für den Menschen heraus zu lesen. In dieser menschlichen, praxisnahen Anwendung liegt für uns der Reiz, den Tango mit dem Gottesdienst zu verbinden“, erklärt André.

Seit 2007 unterrichten sie Tango Argentino für Anfänger:innen und Fortgeschrittene in der Lutherkirche. Ebenfalls seit 2007 findet mehrmals im Jahr ein Tangosalón statt, bei dem nach einer Stunde Práctica in feierlichem Rahmen getanzt wird.

Im „Zivilberuf“ ist André Ingenieur für Flugzeugbau und Kathrin organisiert die Tangokurse und Auftritte, und ist Trainerin für Pilates und Faszientraining.


„Beim Tango geht es darum, die Füße auf dem Boden zu halten und die Quelle nicht aus den Augen zu verlieren.“



Helga Fitzner: Sie haben als Jugendliche zunächst ganz „normal“ Standard getanzt und anschließend mit Turniertanzen weitergemacht. Wie sind Sie auf den Tango Argentino gekommen?

André: Da kamen zwei Sachen zusammen. Das Standardtanzen ist eine Sportart, bei der es um streng reglementierte Figuren in festen Abläufen geht. Da gibt es wenig Spielraum für Kreativität und Ausdruck. Und eines Abends – jetzt wird es richtig unromantisch – haben wir vor dem Fernseher gesessen und auf ARTE einen Themenabend über argentinischen Tango gesehen. Im Anschluß wurden Tangofiguren zum Nachtanzen gezeigt. Daraufhin brachten wir uns die ersten Schritte selber bei. In einer normalen Tanzschule wird der Tango Argentino nicht unterrichtet. So sind wir eines Tages an Norma Raimondi geraten. Die hatte den Tango Argentino frisch von Argentinien nach Köln gebracht und den Don-Tango-Club eröffnet.

Kathrin: Wir haben parallel eine Zeit lang immer noch Standard getanzt, aber irgendwann passte das mit unserer Tanzphilosophie nicht mehr zusammen und wir mussten uns entscheiden. Ich hatte angefangen, in den Quickstep Verzierungen einzubauen, weil mich die Musik dazu inspiriert hatte. Da hieß es: „Was machst du denn da!“. Das passte zum Standardtanz überhaupt nicht, aber beim Tango Argentino sind Verzierungen ein wichtiges Element, um die Musik zu interpretieren. Beim Tango Argentino ist die Tanzhaltung genau andersherum als beim Standardtanzen, sehr intim, weil die Oberkörper ganz eng zusammen sind. Das geht im Standardtanz nicht.

André: Mit dem Tango Argentino ging es dann so weiter, dass Norma uns fragte, ob wir uns vorstellen könnten, ihre Assistenten zu werden und für die Bühne zu arbeiten. Dadurch eröffnete sich uns, was wir beim Standardtanz vermisst hatten: Schauspielerei, Theatralik, tänzerischer Ausdruck und Musikarbeit. Da hat Norma uns ganz schön geschliffen. Am Anfang gab es eine Choreografie, die wir 126 mal tanzen mussten, bevor sie zum ersten Mal aufgeführt werden konnte. Der Aufwand war immens, aber wir hatten schon bundesweit eine Reihe von Auftritten.

Helga Fitzner: Machen Sie das mittlerweile hauptberuflich?

André: Das hatten wir uns tatsächlich überlegt. Ich bin ausgebildeter Ingenieur für Flugzeugbau. Aber aus Vernunftgründen haben wir uns entschieden, einen Lohn- und Brotberuf zu behalten. Tango-Unterricht und Auftritte sind aber zum Zweitberuf geworden. Doch nicht nur die Beschäftigung mit dem Tango, sondern auch Tanz im allgemeinen wurde für uns immer wichtiger. Irgendwann meinte Norma dann: Ihr braucht jetzt auch noch Modern Dance und Klassischen Tanz, um den Körper auszubilden und den Ausdruck zu verbessern. Das machen wir jetzt seit mehreren Jahren.

Helga Fitzner: Beim Tango Argentino sind die Aufgaben klar verteilt: Der Mann „führt“ und die Frau „folgt“. Das hat in unserer feministisch angehauchten Zeit schon einen komischen Beigeschmack.

André: Da möchte ich einen argentinischen Lehrer von uns zitieren: „Diese Dominanz, die der Mann beim Führen angeblich hat, ist völliger Quatsch. Ein Paar besteht zu 50 % aus dem Mann und zu 50% aus der Frau. Sonst funktioniert dieses Team Paar überhaupt nicht.“ Meine Tangopartnerin muss genau so gut folgen können, wie ich führen kann.

Kathrin: Es gibt viele Momente im Tango Argentino, bei denen die Dame der Motor für eine Bewegung ist. Die Musikarbeit liegt in solchen Momenten komplett bei ihr, wenn der Herr, zum Beispiel, nur auf einem Bein steht und sich von der Dame drehen lässt. Der Herr hat als führender Teil zwar diesen Vorschlag gemacht, aber wie die Dame das dann ausführt, überlässt er ihr. Ich kann auch zwischendurch Freiräume für mich einfordern, um Verzierungen zu machen. Daraus entsteht ein Dialog im Paar.


Tango Argentino zwischen Klischee und Wirklichkeit



Helga Fitzner: Der Tango Argentino, wie man ihn aus den Medien kennt, wirkt aber nicht sehr dialogisch. Da prickelt es auch immer vor Erotik…

André: … ich störe mich immer an dem Begriff „Erotik“. Es ist keine Erotik, es ist eine Sinnlichkeit. Erotik geht zu sehr in die eine Richtung. Tango ist subtiler. Ich muss mit der Frau gar nichts zu tun haben. Die kann mir, überspitzt formuliert, nach den drei, vier Minuten Tanz völlig egal sein. Ich habe mit ihr einen schönen Tango vollbracht und das war es. Erotik ist ein Klischee, das der Tango Argentino leider mit sich herumträgt, dass die Frau in einem geschlitzten Kleid und mit einer Rose zwischen den Zähnen übers Parkett geschleift wird. Das hat mit dem eigentlichen Tango Argentino aber nichts zu tun. Es geht in erster Linie um die Musik und deren tänzerische Umsetzung. Da arbeitet man auf mehreren Ebenen. Ich kann Kathrin die „Geige interpretieren“ lassen, während ich das „Klavier tanze“ oder umgekehrt. Sie ist meistens das helle Instrument. Der Herr ist z. B. oft das Bandoneon, weil das kräftige, taktbezogene Töne sind.

Kathrin: Das ist wirklich subtiler. Mein absolutes Tango-Highlight-Erlebnis geschieht ganz selten, aber manchmal gibt es einen Moment, wo wirklich alles stimmt. Wo man den Eindruck hat, jetzt führt der Partner genau das, was auch ich in der Musik spüre und fühle. Das ist so ein Gefühl der Gedankenübertragung. Da entsteht eine absolute Harmonie, die für mich dann immer wieder etwas Besonderes ist: Wenn man sich völlig auf einer Wellenlänge mit dem Partner befindet.

Helga Fitzner: Sie stecken so viel Engagement und Zeit ins Tanzen. Was würde passieren, wenn über Nacht ein strenges Gesetz erlassen würde, dass den Tango Argentino verböte?

André: Och, schade. Dann wären wir über Nacht arbeitslos. Und auch sonst wäre das für uns eine mittelschwere Katastrophe.

Kathrin: Ich glaube, dass die Szene so engagiert wäre, dass sie im Untergrund weitermachen würde.

André: Ja, das glaube ich auch. Dann würde der Tango Argentino wieder dahin zurückkehren, wo er herkam, in den Untergrund.

Kathrin: Wir kennen so viele Leute, die sich ein Leben ohne Tangotanzen nicht mehr vorstellen können. Es gibt auch viele, die nahezu jeden Abend Tangotanzen gehen. Für die ist das schon eine Katastrophe, wenn ihre Lieblings-Milonga Sommerpause macht.

Helga Fitzner: Was genau ist es, was in diesem Augenblick fehlen würde?

André: Das ist nicht nur der Tanz, es ist auch ein Gefühl, was dann verloren ginge. Deshalb bin ich sicher, dass der Tango Argentino in den Untergrund gehen würde, selbst wenn mit Verfolgung und Verhaftung zu rechnen wäre. Aber was ist das genau!? Das geht in mehrere Richtungen. Zum einen geht es um Verkleiden. Aber nicht nur äußerlich, man taucht in eine andere Zeit ein.

Kathrin: Es entsteht so eine Art Parallelwelt.

André: Ja. Man schlüpft in eine andere Rolle. Das ist für mich als Rheinländer besonders schön, weil der Rheinländer sich grundsätzlich gerne verkleidet. Auf eine harmlose Art und Weise kann ich eine andere Rolle spielen.

Kathrin: Vielleicht auch wieder eine klassischere Rolle spielen.

André: Vielleicht, weil es eine Sehnsucht nach Führen und Folgen gibt. Auch wenn das jetzt provokativ klingt, manche Frauen haben von der Emanzipation die Nase voll. Sie würden sich gerne, auch wenn das klischeehaft ist, mal wieder anlehnen und führen lassen. Und mancher Mann sehnt sich danach, auch mal eine Frau mit Verantwortung zu führen. In der realen Welt haben wir eine andere Rollenverteilung. Die Frau kann ein genau so guter Vorgesetzter sein wie ein Mann.

Helga Fitzner: Wir leben in einer Welt, in der vieles nicht mehr klar definiert ist. Beim Tango Argentino ist alles klar definiert. Macht das einen Teil der Faszination aus?

André: Jeder hat seine Regeln, innerhalb derer man sich bewegt. Aber – innerhalb dieser Regeln ist es keine definierte Sache, da hat man alle Freiheiten.

Kathrin: Eine Tangotänzerin, die nach Argentinien ausgewandert ist, sagte mal: „Wenn ich Tango tanze, kann ich mal wieder so richtig Frau sein. Vom Verhalten her, von der Kleidung her.“ Mir selbst ist schon passiert, dass ich auf der Straße Kopfschütteln geerntet habe, wenn ich in „Tangokleidung“ zu einem Ball unterwegs war. Wie kann man nur so herumlaufen, mit Netzstrümpfen und auch sonst so herausgeputzt. Das ist beim Tango Argentino absolut normal.

Helga Fitzner: Das klingt ziemlich lustvoll.

André: Der Mann kann den Nadelstreifenanzug herausholen, er kann sich Gel in die Haare schmieren, alles das, was man in den Filmen sieht. Dann kommt natürlich noch der Spaß an der Bewegung dazu und dass man einen Menschen im Arm halten und sehr eng berühren kann. Der Tango Argentino funktioniert nur mit einer ehrlichen Umarmung. Ich kann keine Umarmung spielen.



Über die Sehnsucht nach Nähe

Helga Fitzner: Hat das mit dem Zulassen von Nähe zu tun?

André: Ja. Es geht auch um das Zulassen von Nähe. Vielleicht sucht man das auch. Ich sage immer im Unterricht: Im Tango gibt es kein Vielleicht. Es gibt ein Ja oder Nein, ein Schwarz oder Weiß. Tu es oder tu es nicht. Dazwischen gibt es nichts. Grauzonen funktionieren nicht. Das ist auch eine Sache, die die Leute bei einem Verbot des Tangos vermissen würden. Sie suchen unverfänglich einfach mal Nähe.

Helga Fitzner: Diese Nähe ist aber auch oft wieder mit Loslassen verbunden, denn nach dem Tanz, nach der Verkleidung ist es wieder anders.

André: Genau. Man sieht sich nächste Woche wieder. Vielleicht aber auch nicht.

Kathrin: Es geht aber auch darum, sich in einer Gemeinschaft aufgehoben zu fühlen. Wir haben das schon häufiger erlebt, zu Hause oder auch im Urlaub, wenn wir Tango tanzen gehen, gehören wir sofort dazu. Es wird keiner ausgegrenzt. Man akzeptiert sich sofort. Man duzt sich sofort. Man kennt sich oft Jahre lang. Dabei weiß man manchmal gar nicht, was der andere beruflich macht. Es zählt in dem Moment nur die Person.

André: Gemeinschaft ja, aber ohne Klüngel, ohne Vereinsmeierei. Das hasst der Tangotänzer. Auf Kegelfahrt kriegt man den nicht.

Helga Fitzner: Da sind schon einige Aspekte zusammen gekommen. Wir haben das Spielerische, das Sinnliche, die Verkleidung, das Element der Gemeinschaft, das Zulassen von Nähe. Das alles ginge verloren, wenn der argentinische Tango verboten wäre.

André: Ja, das ist ein ganzer Haufen. Es gibt außer beim Tango Argentino auch keinen Tanz, bei dem man so eng mit den Beinen aneinander vorbeitanzt. Wo finden sonst diese arabeskenhaften Beinbewegungen statt? Alles mit Respekt vor der Dame! Da ist nie etwas Anrüchiges dabei.

Kathrin: Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Musik. Tangotänzer hören unwahrscheinlich viel Musik, weil das für die Interpretation beim Tangotanzen ungeheuer wichtig ist. Es gibt eine große Fülle von Musikstücken und wer sehr lange tanzt, kennt die meisten auswendig und weiß deshalb auch die Akzente in der Musik zu interpretieren.

André: Dann noch die Hoffnung, die Harmonie, von der Kathrin eben sprach, irgendwann mal wieder zu erleben.


 

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Tangopaar Kathrin und Andre, Gottesdienst 2017 / Foto: Helga Fitzner

“Tango ist wie das Leben – heute so, morgen so“

Helga Fitzner: Ist Tango Argentino eine temporäre Weltflucht?

André: Ja, daraus ist er entstanden. Das ist sein Ursprung.

Kathrin: Tango Argentino ist aber auch einfach Bewegung. Man kann sich austoben, man kommt auch mal ins Schwitzen.

Helga Fitzner: Gibt es etwas, was den Tango ersetzen könnte?

André: In dieser Bandbreite wohl nicht. Das ufert in so viele Bereiche aus, dass ich nicht sagen könnte, was das vollständig ersetzen könnte. Man würde uns zu Maschinen degradieren. Wir würden morgens antraben zum Beruf und abends nach Hause kommen. Fertig. Man müsste sich etwas anderes suchen. Aber was?

Kathrin: Mir würde das Kennenlernen von anderen Kulturen fehlen. Wir haben mehr Geduld und Toleranz für andere Kulturen entwickelt.

Helga Fitzner: Was ist an der südamerikanischen Mentalität der Argentinier.innen anders?

Kathrin: Vieles ist einfach nicht mehr so wichtig, was wir früher als wichtig betrachtet haben. Zum Beispiel, dass man auf Biegen und Brechen pünktlich anfängt. Man betrachtet vieles entspannter.

André: Darin ist der Kölner dem Argentinier gar nicht so unähnlich. Unsere russischen Lehrer haben wieder eine ganz andere Denkweise. Aber dieses Einwirken verschiedenartiger Kultureinflüsse erweitert den Horizont für einen selbst.

Helga Fitzner: Das schließt dann wieder den Kreis zum Tango, der von seiner Entstehung her multi-ethnisch ist.

André: Ja, da kann man wirklich nicht sagen: Wer hat’s erfunden? Würde man den Tango in dieser Art definieren wollen, ginge das nicht. Das wäre wie die Quadratur des Kreises.

Helga Fitzner: Haben wir alle wesentlichen Aspekte so weit erfasst?

André: So als Schlusswort kann man nehmen: Es ist nie zu Ende. Es geht immer weiter. Der Tango ist nicht fertig. Der Tango entwickelt sich ständig weiter, wie die Menschheit auch. Das klingt jetzt vielleicht geschwollen, aber der Tango kann wirklich wie das Leben sein. Heute so, morgen so.


Tango Argentino im Gottesdienst

Helga Fitzner: Die Lutherkirche hat natürlich mit Religion zu tun und da kommen Themen wie Harmonie, Gemeinschaft und vieles mehr von dem vor, worüber wir gesprochen haben, vor. Würden Sie dem Tango Argentino auch eine spirituelle Dimension zusprechen?

André: Dazu muss ich einleitend sagen, dass wir uns mit dem Begriff Kirche sehr schwer tun. Wir mögen den Hans Mörtter aus dem Grund sehr, weil er nicht bekehrend wirkt. Der nimmt die Leute so, wie sie sind. Aber dem Tango etwas Spirituelles abzunehmen!? Er ist „inspirierend“, würde ich sagen. Aber die soziale Komponente des Tango Argentino lässt sich vielleicht doch mit der Kirchenarbeit vergleichen. Der Tango ist von armen Leuten getanzt worden, stammt aus den unteren Schichten. Er ist aus einer Sehnsucht heraus entstanden, schlichtweg aus dem Heimweh heraus, aus der Sehnsucht nach Zuneigung. Damals kam zahlenmäßig auf zehn Männer eine Frau.

In der menschlichen, praxisnahen Anwendung an der Lutherkirche, da liegt für uns der Reiz, den Tango mit dem Gottesdienst zu verbinden. Hans Mörtter versucht immer wieder, aus dem Tango etwas für den Menschen heraus zu lesen. Wenn da irgendetwas Missionarisches anklänge, wären wir nur einmal angetreten und dann nie wieder. – Ich weiß noch, eines Abends saßen wir bei einer Flasche Rotwein und da kam um 23.00 Uhr ein Anruf. „Wir haben ja morgen den Tango-Gottesdienst,“ sagte Hans Mörtter, „und wir vertanzen morgen die Integration afrikanischer Flüchtlinge mit dem Tango.“ Da haben wir erst einmal eine zweite Flasche aufgemacht, weil wir zunächst keine Ahnung hatten, wie wir das machen sollten und haben uns in der Nacht noch etwas ausgedacht. So kann ich auch mit Kirche wieder etwas anfangen. Hans Mörtter versucht, das für den Menschen zu adaptieren und ihm als Botschaft anzubieten.

Kathrin: Dadurch wird Kirche noch einmal ganz anders zu einem Ort der Begegnung.

André: Beim Tango geht es darum, die Füße auf dem Boden zu halten und die Quelle nicht aus den Augen zu verlieren. Dann ist man wieder Mensch.

 

Das Interview mit Kathrin und André führte Helga Fitzner am 4. August 2008.