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"Afrikanische Flüchtlinge" - Tangogottesdienst 2006

Bild von Public Domain Archive / Pixabay
Bild von Public Domain Archive / Pixabay

Tango ist caminar. Tango ist gehen. Wisst ihr, wie Tango entstanden ist? En corazón – im Herzen. Menschen, die aus Europa geflohen sind, nach Buenos Aires, an den Rio de la Plata. Sie glaubten, dort eine neue Heimat zu finden, vor allem aber, satt zu werden. Und das jeden Tag.

von
Helga Fitzner und Hans Mörtter

Groß war ihre Enttäuschung, über ihre Chancenlosigkeit. Arm, heimatlos, ohne Recht. Lange mussten sie gehen. So fingen einige an, Musik zu machen und zu tanzen. Dieses Urmenschliche, die Sehnsucht nach Heimat, nach Menschsein, nach Würde ist vom Tango nicht zu trennen. Auch heute nicht. Wir sind Menschen. Aber das wird nur spürbar, wenn wir auch das zulassen können – den Schmerz der anderen. Raúls Tanz, der Koffer, der Stuhl, die Einsamkeit, das Ausgeliefertsein, die Verzweiflung. Ein bisschen was konnten wir spüren. – Aber es war ein Tanz, und Raúl ist kein Asylant. Wir alle hier auch nicht.

Flüchtling oder Migrant. Man kann spüren, das Entsetzen, das er bekam, als er es nach zehn Tagen auf hoher See geschafft hat, zu überleben, und an einem schönen Strand auf den Kanaren ein Land wartet mit sich sonnenden, fetten Billigurlaubern – sag ich jetzt mal so.

An der Lutherkirche haben wir einen Illegalen im Augenblick, seit gut einem halben Jahr. Er kommt aus einem anderen Land, nicht aus Afrika. Ich sage nicht, woher. Aus diesem Land gibt es einige, die illegal in Köln leben. Es gibt auch welche, die legal hier leben. Aus diesem Land bringt er eine wunderbare Geschichte mit: Solidarität! Seine Landsleute halten halbwegs zusammen. Denn was passiert, wenn J., das ist der erste Buchstabe seines Namens, denn er hat einen Namen, krank wird oder ins Krankenhaus muss. Er hat einen Pass der Lutherkirche, in dem ein paar Sätze stehen und unser fast 200 Jahre altes Gemeindesiegel. Das ist ein gleichschenkeliges Dreieck mit zwei Händen, die sich reichen und drum rum steht: Lasst uns einander lieb haben. J. kann sich auf uns verlassen und auf manchen Polizisten oder manche Polizistin in Köln, denen er diesen Ausweis zeigt. „Ausweis“ heißt hier in Anführungsstrichen, denn er ist ja nichts wert, außer einen Appell: Lasst diesen Menschen in Frieden. Lasst ihn in unserer Stadt leben. Denn er kommt mehr oder weniger allein zurecht. Verdient sogar sein Geld und überweist jeden Monat seiner Familie im Heimatland das Geld, das sie dort brauchen, um überleben zu können. Aber es ist kriminell, einen solchen Menschen zu schützen. Es ist nach wie vor ein Verbrechen. Und doch nötiger denn je.

Ich habe vielleicht nicht die Antwort, aber der alte Prophet Jesaja gibt eine. Nach wie vor aktuell. In einer Vision beschreibt er im Lesungstext, den wir gehört haben, den Berg Zion, zu dem die Völker Wallfahrten machen werden, weil dort Frieden und Gerechtigkeit herrschen werden, so die Verheißung.

Vielleicht ist es gerade das – dass wir der Innenministerkonferenz alles überlassen – und sagen schön, die haben doch einen Beschluss gefasst, der zwar wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, aber immerhin, die wollen ja. Doch reicht das nicht. Wir haben Raum in Deutschland, und wir haben Arbeit, weil die andere Menschen nicht tun wollen. Und wir sind satt, wo andere hungern. Wir können Fisch essen, wo bei anderen Küsten alles leer gefischt ist, weil wir so unermesslich gierig sind. Das eine hat mit dem anderen was zu tun.

Ich träume davon, dass wir hier in dieser Kirche Tango tanzen als Reiche und Satte mit afrikanischen Flüchtlingen. Von Herz zu Herz. Ich träume davon, dass uns diese Frage bewegt uns nicht los lässt und ins Diskutieren bringt: Wie sieht eine Welt aus, in der nicht 191 Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und Armut sein müssen oder in der es kein Problem ist, 30 Millionen Schusswaffen wie in Afrika zu haben. Und Rheinmetall expandiert und entwickelt immer „perfektere“ Waffen.

Wir sind Menschen. Aber es droht uns zu entgleiten unser Menschsein mit all dem, was da geschieht. Jeder Flüchtling dieser Erde stellt das in Frage. Was für ein Wahnsinn ist das! Stellt euch die Kinder vor. Stellt sie euch vor an ihren Orten, in ihrem Leben, in ihrem Sterben. Ja, wir sind Menschen, aber wir sehen gar nicht so aus. Sonst wären wir mutig und standhaft, lebten in der Erkenntnis: Kein Tango ohne Stand. Kein Tango ohne Rückgrat und Perspektive. All das ist uns seit unserer Geburt als Menschen mitgegeben. All das besitzen wir, auf das wir beginnen zu gehen, in unser Leben hinein mit all denen, die auf diesem Planeten leben. Gehen wir! Amen.

Hans Mörtter



Hintergrundbericht zum Thema „Afrikanische Flüchtlinge“

Kein Preis zu hoch – Afrikanische Flüchtlinge stürmen die Festung Europa
Die Urlaubsidylle auf Teneriffa wird jäh unterbrochen. Wie schon so oft in diesem Sommer 2006 empfangen die Mitarbeiter des Rotes Kreuzes auf der Kanarischen Insel einen Funkspruch der Küstenwache. Wieder wurde ein Boot mit afrikanischen Flüchtlingen aufgebracht, wieder wird die Anzahl der Überlebenden durchgegeben und die der Gehunfähigen. Während das Boot auf die Insel zufährt, setzt sich das Räderwerk der Hilfsorganisation in Bewegung. Wenn die Flüchtlinge ankommen, ist alles bereit: Tragegestelle und medizinische Erstversorgung für die Kranken, heißer Tee und Kekse für alle. Menschen mit Mundschutz und Latex-Handschuhen helfen den Flüchtlingen von Bord, die nach rund zehn Tagen das erste Mal wieder festen Boden unter den Füßen haben.

Während sie auf dem Boden sitzend ihren Tee schlürfen, ertragen sie matt das Blitzlichtgewitter der Fotografen und Urlauber. Vierzig Tage und ein paar Verhöre noch, dann haben sie es geschafft. Die spanischen Einwanderungsgesetze haben sich in Afrika schon lange herumgesprochen. Im Auffanglager dürfen sie nur vierzig Tage lang festgehalten werden. Wenn die Behörden bis dahin nicht herausgefunden haben, aus welchem Land sie stammen, werden sie sich selbst überlassen. Vierzig Tage überfülltes Lager sind eine Lappalie – im Vergleich: Sie müssen sich keinen unverantwortlichen Fahrern mehr anvertrauen, keine Schlepper mehr finanzieren, keine korrupten Beamten schmieren. Einige haben Tausende von Kilometern Wegstrecke hinter sich, vielleicht sogar eine Wüste durchquert, bevor sie überhaupt an der Küste Westafrikas, im Senegal oder in Mauretanien, angekommen sind. Dann kommt die riskante Überfahrt in nicht immer seetauglichen Fischerbooten. Nur 60 bis 80 Prozent überleben diesen letzten Teil der Odyssee.

Nein, dieser Haufen zerlumpter Afrikaner und Afrikanerinnen, der da brav im Gänsemarsch auf den Transportlaster zum Lager zumarschiert, besteht keineswegs aus Verlierern. Oft sind es nur die Stärksten und Besten, die die afrikanischen Familien aussuchen, um in Europa ihre Existenz zu sichern. Sie haben sie unter Entbehrungen zur Schule geschickt, damit sie Lesen und Schreiben lernen – in Afrika keine Selbstverständlichkeit. Einige haben sogar einen Beruf erlernt. Und gesund müssen sie sein, damit sie die schwere Arbeit, die Illegale verrichten müssen, auch schaffen. (Anm. d. Red. von Oktober 2013: Mittlerweile befinden sich auch zunehmend Frauen und Kinder auf diesen Booten).

Die Flüchtlinge haben ihre Papiere weggeworfen, kurz bevor sie ins Boot stiegen, damit sie nicht zurückgeschickt werden können. In Spanien müssen sie ihr Leben als „sin papeles“ fristen, als Menschen ohne Papiere. Die Tageszeitung, taz, hat am 29. September 2006 einen Brennpunkt zu dem Thema veröffentlicht und Ali Kadhim interviewt. Kadhim ist der Leiter der Albergue El Parque in Madrid, der Erstunterkunft für Flüchtlinge, die aufs spanische Festland ausgeflogen werden. Frage an Kadhim: „Das Rote Kreuz … bietet Sprachkurse, Rechtsberatung und Tipps für den Alltag in Spanien an. Bereitet das Rote Kreuz die Immigranten nicht mit staatlichen Geldern auf den schwarzen Arbeitsmarkt vor – und damit auf ein rechtloses Dasein mit Niedriglöhnen? ‚Der informelle Arbeitsmarkt ist ihre einzige Chance. Er macht 20 Prozent der spanischen Wirtschaft aus’, weist Kadhim diesen Vorwurf zurück… ‚Ohne Papiere können sie nicht einmal die wenigen Integrationsmöglichkeiten in Anspruch nehmen, die das Land biete’, sagt Kadhim. Denn nur, wer sich als Illegaler auf dem Einwohnermeldeamt einschreibt, wird kostenlos ärztlich versorgt. Wichtiger noch: Die Einschreibung beweist, wie lange man schon im Lande ist. Arraigo – Verwurzelung – heißt das Zauberwort. Wer nachweisen kann, dass er drei Jahre in Spanien gelebt und gearbeitet hat, hat laut Ausländergesetz das Recht auf eine Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung.“

Trotz dieser harten Bedingungen schaffen sie es, ihre Familien finanziell zu unterstützen. Es gibt weltweit 191 Millionen Migranten. Nach Schätzungen der Weltbank haben sie von ihrem Verdienst in der Fremde im Jahr 2005 insgesamt 232 Milliarden Dollar zur Unterstützung Angehöriger in ihre Heimatländer überwiesen. Das ist weit mehr als die gesamte Entwicklungshilfe.


Die EU setzt auf Abwehr

Als die Mittelmeerstaaten – im wesentlichen Spanien, Italien und die Insel Malta – wegen des anhaltenden Flüchtlingsstroms im Sommer 2006 Alarm schlagen, ist die Europäische Union überfordert. Es ist schwierig, sich auf eine gemeinsame Strategie zu einigen. Die Strategie ‚Abwehr’ erweist sich jedoch allgemein als konsensfähig. Mit Patrouillen-Booten will man den Flüchtlingen zu Leibe rücken und sie an der Überfahrt hindern. Zudem will man Druck auf die afrikanischen Staaten ausüben, damit sie die Flüchtlinge zurücknehmen. Uneinig ist man nur, aus welchem Fonds das finanziert werden soll. Schuldzuweisungen werden geäußert.

Im Jahr 2005 hat Spanien 700.000 Migranten nachträglich legalisiert und ihnen Aufenthaltsgenehmigungen erteilt. Das hat einen Sog-Effekt ausgelöst, kritisieren die einen. María Teresa Fernández de la Vega, Vizepräsidentin der spanischen Regierung, ist da anderer Meinung. In der Frankfurter Rundschau vom 30. September 2006 äußert sie: „Ich habe immer gesagt, dass wir keinen Sogeffekt haben, sondern einen Fluchteffekt. Im Senegal leben 58 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsschwelle. Brauchen die einen Sogeffekt?“

Rund 30.000 Flüchtlinge zählen allein die Kanarischen Inseln für das Jahr 2006. Es würden mehr werden, wenn die Witterungsverhältnisse weitere Überfahrten erlaubten. Die Zahl derer, die auf der Überfahrt gestorben oder ertrunken sind, kann nur geschätzt werden. Man weiß mit Sicherheit von Tausenden, mit Dunkelziffer sind es möglicherweise Zehntausende. Der Atlantik ist seit ein paar Jahren ein Massengrab. 
Der EU-Justizkommissar Franco Frattini „droht“ laut dpa-Meldung verzweifelt: Wenn die EU ihren geplagten südlichen Mitgliedern nicht spürbar helfe, dann müssten die EU-Staaten sich die legale Einwanderung teilen.

Dann haben die diplomatischen Bemühungen der EU „Erfolge“ aufzuweisen. Der Senegal ist bereit, seine Flüchtlinge zurückzunehmen. Der Tagesspiegel vom 22. September 2006 berichtet: “Seit einigen Tagen startet täglich ein Passagierflugzeug von den Kanaren in Richtung Senegal, mit weinenden Senegalesen an Bord, die gefesselt in ihre Heimat zurücktransportiert werden.“ Die taz hatte am 14. September 2006 schon berichtet, was sich im Senegal abzeichnet: „Die Richter – die von der Regierung angehalten sind hart durchzugreifen – können Strafen von bis zu zehn Jahren und 7.600 Euro Bußgeld verhängen.“

Das verlorene Gedächtnis!?

„Wir haben nicht unser Gedächtnis verloren aus der Zeit, als wir das Land verließen, als wir nach Lateinamerika, nach Frankreich, Deutschland oder die Schweiz emigrierten“, beteuert María Teresa Fernández de la Vega, Vizepräsidentin der spanischen Regierung, in der bereits zitierten Frankfurter Rundschau. „Heute ist Spanien ein entwickeltes Land mit solider Demokratie, die Wirtschaft wächst über europäischem Durchschnitt. Vor gut 30 Jahren lebten wir in einer Diktatur, wir hinkten der europäischen Entwicklung hinterher… Spanien ist selbst ein Land der Emigration gewesen.“

Leider wird in der EU nicht nach dieser Erkenntnis gehandelt. Die Europäer haben scheinbar ihre eigene Geschichte vergessen. In den vergangenen Jahrhunderten hat es von Europa aus immer wieder große Einwanderungswellen in die USA oder nach Australien gegeben. Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland kam es zur Massenflucht. Vor rund 70 Jahren war Deutschland an der Reihe. Da haben viele das Land verlassen und dem Hitler-Regime den Rücken gekehrt. Es waren jüdische Deutsche, aber auch Kommunisten, Künstler und Intellektuelle. Deutschland, einstmals das Land der Dichter und der Denker, verkam geistig und kulturell in dieser Zeit.

Europa treibt Afrika in den Ruin

So ergeht es auch den afrikanischen Ländern, weil die Besten von ihnen abwandern und damit ihre Länder teilweise der Willkür der Ungebildeten, Korrupten und Kriegsherren überlassen. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung veröffentlichte am 7. September 2006 alarmierende Zahlen: „Daß Migration schlimme Folgen für die Herkunftsländer haben kann, zeigt der Weltbevölkerungsbericht am Beispiel der Abwanderung ausgebildeter Krankenschwestern, Hebammen und Ärzte aus den maroden Gesundheitssystemen ihrer Länder… Aus Ghana etwa seien im Jahr 2000 doppelt so viele Krankenschwestern ausgewandert, wie dort ihren Abschluß gemacht hätten… In der britischen Stadt Manchester arbeiten mehr malawische Ärzte als in ganz Malawi.“

Doch nicht nur durch die abgewanderten Fachkräfte haben wir zur Verschärfung der Situation in Afrika beigetragen: Die taz vom 16. Juni 2006 titelt: „Wie sich die EU ihr Flüchtlingsproblem selber schafft“ und klärt auf. „Europas Gewässer sind fast leer gefischt. Um ihre Fischerei am Leben zu erhalten, schickt die EU ihre hoch subventionierten Fangflotten immer öfter vor die Küste Afrikas. So treibt sie die Fischer Westafrikas in den Ruin – und damit in das Geschäft mit der illegalen Migration nach Europa…. Die’„Atlantic Dawn’ aus Irland (eine schwimmende Fischfabrik)… holt pro Tag bis zu 400 Tonnen aus dem Wasser; dafür bräuchte ein lokaler Kleinfischer zehn Jahre. Nach Angaben des World Wide Fund for Nature gehen 80 Prozent des Fischfangs vor Westafrika seit 1960 auf das Konto ausländischer Flotten“.

In einem Lied von Klaus dem Geiger heißt es: „Du bist arm, damit ich reich sein kann“.
 

Helga Fitzner