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Zukunftoptionen in Nahost und die Herausforderung einer mutigen deutschen Politik. - Dialoge über Palästina V

Abdallah Frangi, Hans Mörtter und  Avi Primor nach ihrem Gespräch in der Lutherkirche Köln / Foto: Lothar Wages
Abdallah Frangi, Hans Mörtter und Avi Primor nach ihrem Gespräch in der Lutherkirche Köln / Foto: Lothar Wages

Der israelische Politiker Avi Primor und der palästinensische Diplomat Abdallah Frangi sprachen mit Hans Mörtter im November 2013 über ihre Konzepte für die Zukunft im Nahostkonflikt. 
In dem lebhaften und von gegenseitigem Respekt getragenen Gespräch gingen die beiden Diplomaten insbesondere auf die israelische Siedlungspolitik, das gegenseitige Sicherheitsbedürfnis und die Bedeutung der Verträge von Oslo ein. Sie sprachen über die Befindlichkeit ihrer Völker, deren prekäre Lage sie sehr deutlich machten. Neben der geschichtlichen Entwicklung wurden auch konkrete Lösungen zum Abbau der illegalen Siedlungen im Westjordanland diskutiert und wie die USA und die EU dabei helfen können, dass eine Zweistaatenlösung Realität werden kann.

von
Hans Mörtter

Hans Mörtter: Ich freue mich, dass Sie hier so zahlreich erschienen sind zu einem – in meinen Augen – besonderen Abend. Lieber Professor Dr. Avi Primor und lieber Abdallah Frangi: Es ist uns eine große Ehre, dass Sie heute Abend bei uns in Köln sind. Israel und Palästina sind eine Herausforderung für die ganze Welt, aber auch eine große Verheißung. Ich steige einfach mal mit dem alten Propheten Jesaja ein, bei dem es im zweiten Kapitel, Verse 1 – 4 heißt.: „Das Wort, das Jesaja, der Sohn des Amos, geschaut hat über Juda und Jerusalem. In fernen Tagen wird der Berg des Hauses des Herrn fest gegründet sein, der höchste Gipfel der Berge und erhoben über die Hügel; und alle Nationen werden zu ihm strömen. Und viele Völker werden hingehen und sagen: Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des Herrn, zum Haus des Gottes Jakobs, damit er uns in seinen Wegen unterweise und wir auf seinen Pfaden gehen. Denn von Zion wird Weisung ausgehen und das Wort des Herrn von Jerusalem. Und er wird für Recht sorgen zwischen den Nationen und vielen Völkern Recht sprechen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Keine Nation wird gegen eine andere das Schwert erheben, und das Kriegshandwerk werden sie nicht mehr lernen.“ Das verstehe ich als Überschrift für unseren Abend.


Sie beide haben am 15. November 2013 zu gleichen Teilen den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis in Osnabrück verliehen bekommen. Das macht Sie beide aus, Abdallah Frangi und Avi Primor: Sie sind Humanisten, Brückenbauer, Grenzüberschreiter und Friedensarbeiter der feinen und mutigen Art. Sie gehören zu den, wie ich finde, wenigen Weisen unserer Erde, die wir um der Zukunft willen brauchen. In der Begründung für die Preisverleihung des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises hat die Jury geschrieben: „Beide zeichnet aus, dass sie trotz vieler Rückschläge und der sich aktuell zuspitzenden Situation in Nahost weiterhin für den Dialog, die Verständigung und für das Suchen nach einer gemeinsamen friedlichen Lösung eintreten.“


Avi Primor, Ihre Mutter stammt aus Deutschland und verlor während der Shoa ihre gesamte Familie. Sie selbst emigrierte schon 1932 nach Palästina, wo sie 1935 Sie zur Welt brachte. 1961 traten Sie in den diplomatischen Dienst ein, und später waren Sie von 1993 bis 1999 israelischer Botschafter in Deutschland. Ursprünglich wollten Sie gar nicht nach Deutschland und vor allem wollten Sie nicht die deutsche Sprache lernen nach der fürchterlichen Geschichte, die Juden und Deutsche gemeinsam haben. Trotzdem setzten Sie sich dann nachhaltig für den deutsch-israelischen Dialog ein. Seit 2004 leiten Sie das von Ihnen gegründete trilaterale Zentrum für Europäische Studien in Tel Aviv, den Zusammenschluss einer israelischen, einer palästinensischen und einer jordanischen Universität, die Studenten aus der Krisenregion Zusammenarbeit und Verständigung ermöglichen soll. Sie haben mir gerade erzählt, dass Ihre neue Assistentin Anna Rau ist, die Tochter unseres ehemaligen Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten, die in Tel Aviv Arabisch gelernt und den Islam studiert hat und jetzt als Deutsche die arabische Kultur erforscht und kennt. Wenn das nicht schon praktizierte Zukunft ist.


Herr Frangi, wir hatten im September 2012 einen Talkgottesdienst mit Ihnen und da entstand so eine Art Liebe miteinander, eine tiefe Chemie. Wir freuen uns mit Ihnen, dass Ihnen der Friedenspreis genau an Ihrem 70. Geburtstag verliehen wurde, weil auch Sie diese Anerkennung so sehr verdienen. Sie wurden 1943 als Sohn eines wohlhabenden Beduinenscheichs geboren. Bei der Staatsgründung Israels im Jahr 1948, die die Palästinenser Nakba, Katastrophe, nennen, verlor Ihre Familie ihre Ländereien und musste als Flüchtlinge in Gaza leben. Mit 16 wurden Sie Mitglied der Fatah. PLO-Chef Jassir Arafat ernannte Sie 1974 zum offiziellen Vertreter der PLO in Deutschland. Von 1993 bis 2005 waren Sie der Generaldelegierte Palästinas in Berlin. Heute sind Sie der persönliche Berater des palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas, wirken also weiter, versuchen Brücken zu bauen. Daniel Cohn-Bendit, der nannte Sie liebevoll „ein germanisierter Palästinenser“, und Jassir Arafat nannte Sie und Ihre Freunde die „deutsche Bande“. Jetzt steige ich gleich mal ein mit der Frage, die uns doch alle irgendwie bewegt: Der verstorbene PLO-Führer Jassir Arafat ist exhumiert und seine Leiche untersucht worden. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass er mit Polonium vergiftet worden ist. Herr Primor, wie ist da Ihre Einschätzung, wer ein Interesse an der Ermordung Arafats gehabt haben könnte und welche Kräfte da wirkten.

Der Tod Jassir Arafats

Avi Primor: Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Jassir Arafat in einem Krankenhaus in Paris gestorben ist. Wieso hat man damals nichts entdeckt, als er behandelt wurde und unmittelbar nach seinem Sterben? Wenn man die Israelis beschuldigt, beschuldigt man eigentlich den damaligen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, der bekannt für seinen Hass gegen Arafat war. Aber die Situation war schon derartig verändert, dass ich überhaupt keinen politischen Vorteil in Arafats Ermordung sehen kann, ganz abgesehen von moralischen Fragen. Dann erzählt man uns, dass es innerhalb des palästinensischen Lagers Leute gegeben hätte, die ein Interesse an seinem Tod gehabt hätten – ich weiß das nicht. Das ist immer so im Nahen Osten, da gibt es überall immer Verschwörungstheorien. Bei Arafat soll es um sein Erbe und um Geld gegangen sein. Wie Sie sehen, weiß ich nichts, und deshalb habe ich Ihnen eine lange Antwort gegeben. (Amüsement im Publikum)


Hans Mörtter: Herr Frangi, Sie waren ein enger Freund von Jassir Arafat, wie ist Ihr Eindruck?


Abdallah Frangi: Ich war die ganze Zeit in Paris, als Arafat im Krankenhaus war und wir haben auch mit den Ärzten gesprochen. Für uns Palästinenser stellte sich die Frage, ob Arafat vergiftet wurde, aber wir bekamen von den Ärzten keine klare Antwort. 98 % der Palästinenser würden sagen, dass Sharon dahintersteckte. Er war es, der bei einer Pressekonferenz, als das Mikrofon noch an war, mit dem damaligen Verteidigungsminister Shaul Mofas besprach, dass Arafat beseitigt werden müsse. Darüber haben die Medien damals berichtet. Die jetzigen Untersuchungen ergaben zwar vorhandene Plutoniumfunde im Körper von Arafat, aber keinen eindeutigen Nachweis, dass dies auch die Todesursache war. Was Sharon angeht, vertrete ich den Standpunkt, dass er sehr oft versucht hat, Arafat umzubringen. Aber zurück zum Thema des heutigen Abends, das ja lautet Brücken zu bauen. Ich kann mir das grundsätzlich mit den Israelis vorstellen, aber mit Sharon war es unvorstellbar, Brücken zu bauen. 



„Oslo war nicht nur richtig, sondern unentbehrlich“

Hans Mörtter: Hier sitzt ja jemand, der zu den Brückenbauern gehört. Avi Primor, das Abkommen von Oslo 1993 und der Folgevertrag Oslo II 1994 waren auf der einen Seite ein Durchbruch, weil die gegenseitige Anerkennung des Existenzrechts unterzeichnet wurde. Insgesamt aber, vor allem dann mit Oslo II und der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin 1995, war das auch ein Rückschritt. Seitdem haben es sich alle israelischen Ministerpräsidenten zum Ziel gemacht, die Westbank zu zersiedeln. Sie hebelten damit den auf einen Zeitraum von fünf Jahren geplanten Stufenplan für ein Friedensabkommen völlig aus. Wie ist Ihre Einschätzung? Ist Oslo gescheitert und vorbei?


Avi Primor: Vorbei ist es nicht, weil es keine Alternative dazu gibt. Es steckt in der Sackgasse, das stimmt schon. Die Kräfte, die eigentlich die Oberhand in der israelischen Regierung haben, wollen langfristig das Westjordanland annektieren. Sie bauen dort Siedlungen, damit die Entstehung eines Palästinenserstaates unmöglich wird. Das alles stimmt. Aber ohne die Osloer Vereinbarungen wäre es heute viel schlimmer. Erstens gibt es die Anerkennung eines Palästinenserstaates, einer palästinensischen Nation, was man sich in Israel früher gar nicht vorstellen konnte. Es hat sich schon viel verändert. Die Tatsache, dass es eine palästinensische Regierung gibt, selbst wenn sie nicht unabhängig ist, kann nicht mehr rückgängig gemacht werden, und ich würde sagen, 95 Prozent der Israelis verstehen das. Heute ist es selbstverständlich über Palästinenser, einen Palästinenserstaat und eine Zweistaatenlösung zu sprechen, auch wenn das für viele israelische Politiker nur Lippenbekenntnisse sind, aber das wird dann zur Realität in der Bevölkerung. Es wird ein Teil der Alltagspolitik auch in Israel. Wenn François Hollande zum Staatsbesuch nach Israel kommt, hält der derzeitige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Rede und spricht von seiner Unterstützung der Zweistaatenlösung. Ich bin fest davon überzeugt, dass er daran nicht glaubt. Aber warum sagt er das? Weil er weiß, dass er es sagen muss, und nicht nur für die Franzosen, sondern für die israelischen Zuhörer. Obwohl wir in der Sackgasse stecken, ist so vieles vorangekommen und unumkehrbar geworden. Oslo war nicht nur richtig, sondern sogar unentbehrlich.


Abdallah Frangi: Ich finde, das Osloer Abkommen war der Beginn einer neuen Beziehung zwischen Israel, der PLO und den Palästinensern. Die PLO hat zum ersten Mal Israel anerkannt in den Grenzen von 1967, und Israel hat die PLO als die einzige legitime Vertretung Palästinas anerkannt. Dieser Erfolg ist Jassir Arafat, Shimon Peres und Yitzhak Rabin zuzuschreiben, die dafür auch den Friedensnobelpreis bekommen haben. Die Entwicklung ist jetzt aber so, dass innerhalb Israels die Rechten die Wahlen gewonnen und das Sagen haben. Ihre Politik ist so aggressiv, dass inzwischen über 350.000 Siedler in der Westbank und 200.000 in Ostjerusalem leben. Die jüdischen Siedlungen zerstückeln die palästinensischen Autonomiegebiete und verhindern einen lebensfähigen Palästinenserstaat, wenn er dann entsteht. Aber viele Staaten, die UNO und der Weltsicherheitsrat – und das ist sehr wichtig für uns – haben eine deutliche Haltung: Diese Siedlungen sind illegal und werden von der Welt nicht akzeptiert. Das ist ein wichtiger Punkt. Auch die Mehrheit in Israel glaubt an die Zweistaatenlösung, das haben Umfragen ergeben.

Wir haben im Osloer Abkommen vier, fünf Punkte ausgeklammert – und das war vielleicht ein Fehler damals –, die wichtigsten Fragen eigentlich: die Grenzen von beiden Staaten, die Siedlungen, Ostjerusalem, die Frage der Wasserversorgung und die Sicherheit von beiden Seiten. Die Erklärung des Nahost-Quartetts im Jahr 2012, das sich damit beschäftigt, ist eindeutig: Sie sind für die Zweistaatenlösung, sie sind zum ersten Mal für die Sicherheit der Israelis, aber auch der Palästinenser. Vorher hat man nie die Palästinenser erwähnt, und jetzt ist es eindeutig, dass die Welt inzwischen einsieht, dass die Sicherheit Israels nur garantiert werden kann, wenn die Palästinenser auch Garantien für ihre Sicherheit bekommen. Die Westbank heute und der Gazastreifen stellen ein Viertel des historischen Palästinas dar, und wenn die Palästinenser bereit sind, Israel die restlichen drei Viertel anzuerkennen, ist das eine Verhandlungsbasis, auch wenn nicht alle Palästinenser und viele Araber damit nicht einverstanden wären. Aber dann hätten wir eine Grundlage, um über die Zukunft zu reden. Der amerikanische Außenminister John Kerry arbeitet daran, dass man da in neun Monaten zu einer Verständigung kommt.

Avi Primor: Natürlich können auch Deutschland und die EU Einfluss nehmen, aber ich glaube, nur die Amerikaner können etwas durchsetzen, sollten sie es wollen. Jetzt besteht die Frage, wollen es die Amerikaner? Es gibt die bedingungslose Unterstützung der Amerikaner jeglicher israelischer Regierungen und jeglicher israelischer Politik, ob sie aggressiv ist oder konstruktiv wie in Oslo, immer unterstützen sie bedingungslos die israelische Politik mit aller Macht und mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Doch das war nicht immer so. Diese amerikanische Unterstützung begann erst 19 Jahre nach der Entstehung Israels. Man sagt zum Beispiel, dass die Amerikaner ihr Vetorecht im Weltsicherheitsrat immer in Anspruch nehmen, um Israel zu schützen – das begann aber erst nach 1967. Bis dahin gab es schon eine Macht, die ihr Vetorecht in Anspruch genommen hat, um uns zu schützen, das waren die Franzosen, nicht die Amerikaner. Und ganz, ganz, ganz am Anfang war das die Sowjetunion, das hat man alles schon vergessen. Die Amerikaner haben damit erst 1967 begonnen, als sie ihre Weltanschauung, den Nahen Osten betreffend, total gewandelt haben. Bis dahin waren wir eine Last für sie. Ab 1967 haben sie sich entschieden, dass Israel eine strategische Unterstützung Amerikas im Nahen Osten ist. Nun komme ich endlich zum Punkt: 1969, also zwei Jahre, nachdem die Amerikaner begonnen haben, uns total zu unterstützen, hat der damalige amerikanische Außenminister William P. Rogers, eine beachtliche Rede gehalten, in der er einen Friedensplan für den Nahen Osten unterbreitet hat. Er hat gesagt, Israel muss alle besetzten Gebiete zurückgeben, alle. Er hat nicht gesagt 90 Prozent, 95 Prozent, er hat gesagt alle, und dass man selbstverständlich in diesen besetzten Gebieten keine Siedlungen bauen darf. Dann gab es natürlich auch andere Forderungen, die Palästinenser und die arabische Welt muss Israel anerkennen und es muss Frieden, Kooperation und Sicherheit geben. Das ist also nichts Neues, aber es wird seit 44 Jahren nicht in die Tat umgesetzt.


Hans Mörtter: Die EU-Kommission hat im Januar dieses Jahres Richtlinien verabschiedet, dass Einrichtungen der Europäischen Union keine Finanzierungen, Kredite, Stipendien oder Preise an israelische Unternehmen vergeben dürfen, wenn diese auch in der Westbank, in Ostjerusalem oder auf den Golanhöhen agieren. Die Unterzeichnung der 28 EU-Mitgliedstaaten (damals gehörte Großbritannien noch dazu) steht immer noch aus, Ende November 2013. Dazu kommt, dass die Kommission des UN-Menschenrechtsrates auch im Januar 2013 Israel zum sofortigen bedingungslosen Abbau aller 52 israelischen Siedlungen aus den besetzten Gebieten aufgefordert hat, auch mit der Forderung eines Stopps aller Siedlungsaktivitäten. Der UN-Menschenrechtsrat drohte sogar mit der Einschaltung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag, weil diese Siedlungen völkerrechtswidrig sind. Wie sehen Sie die Rolle der EU?


Avi Primor: In den 80er-Jahren und Anfang der 90er-Jahre war ich Botschafter bei der Europäischen Union in Brüssel. Was waren die Themen der Diskussionen in der Europäischen Kommission? Immer das Gleiche. Man ist über die israelische Politik verärgert, aber man tut nichts. Soll ich Ihnen eine Anekdote erzählen, die mich beeindruckt hat? Als ich Botschafter bei der EU war, hab ich den damaligen israelischen Außenminister, Yitzhak Shamir, der später Ministerpräsident geworden ist, in Brüssel empfangen. Es gab ein Treffen mit allen Außenministern der Europäischen Union und ich habe Shamir darauf hingewiesen, dass die Gespräche wegen des Siedlungsbaus schwierig werden. Da würde einer – Shamir – gegen 15 andere Stehen. Es ist genau so gelaufen, wie ich es erwartet hatte –, ein Außenminister nach dem anderen hat Shamir angegriffen und beschimpft. Ja, die haben sich gut gefühlt, sie waren alle Europäer gegen einen Israeli, das war sehr bequem. Shamir guckte dem Gesprächspartner immer in die Augen und machte so „Mh-hm!, aha!, ah ja!“, als hätte er ihm zugestimmt. Als er seine Rede hielt, hat er von ganz anderen Themen gesprochen. Auf dem Rückweg im Auto habe ich ihn gefragt: „Aber Sie haben alle Angriffe und Beschuldigungen überhaupt nicht erwidert?“ Da sagt er: „Wozu soll ich die erwidern? Die Europäer haben ein Vergnügen daran, uns anzugreifen. Was stört es uns? Wir können doch sowieso machen, was wir wollen. Warum muss ich mich mit denen streiten?“

Zurück zu diesem aktuellen Streit, von dem Sie sprachen, da geht es um die Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft der Europäischen Union. Wir sind seit 1995 Mitgliedsstaat und das ist für die israelische Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft unentbehrlich geworden. Nicht nur, weil so viel Geld in die israelische Forschung und israelische Universitätsinstitutionen aus Europa fließt. Es fließt doppelt so viel zu uns zurück, wie wir einzahlen. Dabei geht es um Milliarden. Die Wissenschafts- und Forschungsgemeinschaft in Israel kooperiert viel mehr mit Europa als mit Amerika und das ist dank dieses Projektes. Jetzt sagen die Europäer, dass diese Gelder nicht in die Siedlungen fließen dürfen, nicht in die besetzten Gebiete und nicht in die Gesellschaften, die in die Siedlungen investieren. Das höre ich seit dem ersten Tag, als wir diesen Vertrag unterschrieben haben. Warum haben die Europäer den Vertrag damals unterschrieben? Wissen Sie, wir sind das einzige, nicht-europäische Land weltweit, das Mitglied dieser Forschungsgemeinschaft der Europäischen Union ist. Es gibt nur noch ein Land, das nicht Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist und auch Mitglied dieses Vertrags ist, das ist die Schweiz. Aber uns kann man nicht mit der Schweiz vergleichen, die Schweizer sind Europäer und werden vielleicht irgendwann auch Mitgliedsstaat der Europäischen Union werden. Nur wir haben so ein Privileg. Jetzt verlangen die Europäer, dass ihre Gelder nicht in die Siedlungen und die besetzten Gebiete gehen, seit 1995. Jetzt plötzlich machen sie ernst damit. Bei uns versteht man das nicht, was wollen die von uns, das war doch immer in Ordnung. Wissen Sie, warum die Europäer heute so sind? Weil wir die Europäer derartig provozieren wie noch nie zuvor. Immer wieder, wenn ein Europäer nach Israel kommt, hört er, dass neue Siedlungen gebaut werden. Die Europäer bauen manches Mal Anlagen, um den Palästinensern Hilfe zu leisten, und dann kommt unsere Armee und baut sie wieder ab. Das ist wirklich reine Provokation. Wer macht das? Natürlich die Siedler, die auch die Palästinenser provozieren. Irgendwann haben die Europäer – wie sagt man das so schön? – die Schnauze voll davon. Aber ob das eine echte politische Bedeutung hat über dieses Symbol hinaus, weiß ich auch nicht.


Hans Mörtter: Herr Frangi, wie ist Ihre Einstellung dazu?


Abdallah Frangi: Ich glaube, es ist kein Zufall, dass nicht nur die Europäer, sondern auch die Amerikaner, ja die ganze Welt darüber redet und jetzt deutlicher Stellung bezieht. Es ist allgemein bekannt, dass diese Siedlungen völkerrechtswidrig sind. Die Provokationen der israelischen Regierung gegenüber der Weltgemeinschaft ist hinreichend bekannt. Obwohl die Beziehungen zwischen Angela Merkel und Benjamin Netanjahu ausgezeichnet sind, hat die deutsche Kanzlerin wiederholt geäußert, dass sie die Siedlungspolitik nicht akzeptiert. Netanjahu hat das total ignoriert und seitdem hat sich das Verhältnis stark abgekühlt. Ich glaube, Netanjahu bildet sich ein, dass er die Besatzungspolitik noch lange Zeit betreiben kann. Ich bin aber der Überzeugung, dass das auf die Dauer nicht gehen wird. Es gibt viele Palästinenser, die das nicht hinnehmen und auch mir den Vorwurf machen, dass es so keine Zweistaatenlösung mehr geben wird. Die Enttäuschung ist so groß, dass viele Palästinenser glauben, eine Zweistaaten-Lösung nicht mehr zu erleben. Ich jedoch bin weiterhin überzeugt, dass es dazu kommen wird, weil auch die USA und die europäischen Staaten ein Interesse an einem Frieden in dieser Region haben. Und zwar möglichst bald.

Momentan findet eine Entwicklung im gesamten arabischen Raum und in der islamischen Welt statt. Das ist sowohl für die Europäer als auch die Amerikaner von großer Bedeutung. Es gibt auch neue Entwicklungen in der Welt, die die Machtverhältnisse verändern. Die Amerikaner und die Europäer haben nicht mehr das alleinige Sagen in der Welt. Es gibt gravierende Veränderungen in Russland. Und China hat an Einfluss zugenommen. Das heißt, die israelische Siedlungspolitik in dieser Expansion, in dieser Ignoranz, schafft ihnen Feinde und das sogar unter den Freunden der Israelis. Shamir hat eine große Rolle dabei gespielt, als er 1991 während der Friedenskonferenz in Madrid geäußert hat: „Lasst die mal unterschreiben, wir werden in zehn Jahren die gesamte Westbank so besiedeln, dass es keine Möglichkeit für einen Palästinenserstaat gibt.“ Diese Arroganz ist hinfällig. Wir haben vor kurzem die Anerkennung von 138 Staaten der Welt für unseren Antrag zur Aufnahme in die UNO bekommen. Dadurch wurde bestätigt, dass wir als Volk existieren. Das ist wichtig und stärkt Präsident Abbas in seiner Haltung, sich weiter für den Frieden einzusetzen, obwohl 99 Prozent der Palästinenser diesen Verhandlungen keine Chance einräumen. Doch wir müssen uns an die getroffenen Vereinbarungen mit den Europäern und den Amerikanern halten. Das heißt, dass wir weiterhin verhandeln, bis diese Frist von neun Monaten abgelaufen ist. Präsident Abbas hat es nicht leicht, aber er bekommt durch seine ausgewogene Haltung Freunde, Unterstützung und Sympathie für einen Palästinenserstaat. Und das ist wichtig. Die öffentliche Meinung spielt eine sehr große Rolle bei der Schaffung unseres Staates. Denn inzwischen sprechen sich 74 Prozent der Europäer für die Zweistaatenlösung aus. Hier möchte ich festhalten, für die Israelis kann es keine Einstaatenlösung geben, denn wenn Israelis und Palästinenser in einem Staatsgebilde lebten, wären die Palästinenser mit der Zeit den Juden zahlenmäßig überlegen.

Zwischenruf eines Mannes aus dem Publikum ohne Mikrophon: Er empörte sich über die Lieferung von U-Booten der deutschen Rüstungsindustrie an die Israelis.


Abdallah Frangi: Bei all den negativen Nachrichten, die Sie vernehmen, verkennen Sie: Wir haben auf Bildung gesetzt und heute mehr Universitäten in diesen kleinen Fleckchen Palästinas als viele arabische Staaten. Es dringt immer mehr ins allgemeine Bewusstsein, dass wir als Volk existieren. Ich bin überzeugt davon, dass wir spätestens in drei, vier oder fünf Jahren einen palästinensischen Staat haben werden. Ich habe Verständnis für Ihre Argumentation, aber näher werde ich mich dazu nicht äußern.

Hans Mörtter: Avi Primor, Sie sind bekannt dafür, ein Kritiker der israelischen Regierungspolitik zu sein, und zwar mit sehr klaren Worten. Sie reden von den elenden Lebensbedingungen der Palästinenser im Gazastreifen, sagen, dass die Besatzung an sich ein Fluch ist und dass gelegentlich – so auch ein Zitat von Ihnen – israelische Gesetzesinitiativen rassistisch sind. Im Januar 2013 konstatierten Sie, dass die Likud-Partei erheblich extremistischer geworden sei. Das sind ganz klare Worte.


Avi Primor: Wir haben auch unsere Extremisten, und ich habe schon vorher angedeutet, dass sie in der heutigen Regierung in Israel die Oberhand haben. Nicht die Mehrheit, aber die Oberhand. Aus zwei Gründen: Erstens, weil die Likud-Partei stark nach rechts gerutscht ist – nicht die Wähler! Die Wähler sind sehr unterschiedlich. Oft wählen sie aus historischen Gründen, aus emotionalen Gründen, nicht unbedingt politisch. Aber die Gewählten, die Abgeordneten, die Minister, da hat die Partei die mehr oder weniger Gemäßigten rausgeschmissen und die ganz extremistischen an die Hauptstellen gesetzt. Aber es gibt die Partner der Koalition, die anderen Parteien, die wirklich die Siedlerpartei sind, die religiösen Parteien. Und wie Herr Frangi es gesagt hat, die sagen klipp und klar, es kann keinen Palästinenserstaat geben. Es kann kein Palästinenserstaat entstehen, weil das Land uns gehört. Nicht nur gehört es uns aus historischen Gründen und aus nationalen Gründen. Das ist eine göttliche Verheißung. Wir haben nicht einmal das Recht, darauf zu verzichten. Diese Leute, die gab es immer. Jedes Mal, wenn wir Land oder Siedlungen geräumt haben – als wir die ägyptischen Gebiete zurückgegeben haben, mit Jordanien eine Vereinbarung gefunden haben, den Gazastreifen geräumt haben – haben sie mit Bürgerkrieg gedroht. Wie Herr Frangi mit Recht gesagt hat, sind sie bewaffnet. Wenn sie von Bürgerkrieg sprechen, dann meinen sie nicht Steinewerfen. Denen ist es aber nie gelungen. Warum? Weil sie im kritischen Moment begriffen haben, dass die Mehrheit der israelischen Bevölkerung nicht hinter ihnen steht, sondern ganz dagegen ist. Das war eigentlich der Grund. Als der damalige Ministerpräsident Menachem Begin die Sinai-Halbinsel und die Siedlungen auf ägyptischem Boden geräumt hat, war es klipp und klar, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht nur hinter ihm stand, sondern Druck auf ihn ausgeübt hatte, um das zu tun. Er wollte es gar nicht. – Die Art und Weise, wie Sharon den Gazastreifen geräumt hat, war wirklich verheerend, deswegen haben wir das Problem bis heute. Er hat das nicht im Einklang mit den Palästinensern gemacht, und das war der große Fehler. Er wollte es einseitig machen. Aber er hat es gemacht. Die Siedler haben mit einem Bürgerkrieg gedroht. Aber es ist dann klar geworden, dass die ganz große Mehrheit der israelischen Bevölkerung dahinter steht, und dann können die Extremisten keinen Bürgerkrieg entfesseln. Nicht gegen die ganz große Mehrheit der Bevölkerung.

Jetzt komme ich zurück zu der heutigen Situation. Da hat Herr Frangi auch wiederum zu Recht gesagt: Die meisten Israelis meinen, dass wir das Westjordanland räumen sollen, sie halten es sogar für wünschenswert für Israel, endlich die Besatzung loszuwerden. Diese Mehrheit gibt es seit mindestens 20 beziehungsweise 25 Jahren, man sieht das an den Meinungsumfragen, die zwischen 60 und 70 Prozent schwanken. Wenn es 30 Prozent gibt, die dagegen sind und bereit sind, einen Bürgerkrieg zu entfesseln, ist das schon ein sehr großes Problem. Klar, das ist keine Nebensächlichkeit, umso mehr jetzt, wo sie die Macht in der Regierung haben. Aber die Mehrheit steht nicht hinter denen. Nur – wo liegt das Problem? Wir brauchen Sicherheit. Wenn ich sage „wir“, meine ich nicht die Regierung. Ich meine die Bevölkerung, weil Israel im Krieg geboren ist und seitdem immer nur im Kriegszustand gelebt hat. Die Israelis wissen überhaupt nicht, was Frieden bedeutet. Die haben nie in Frieden gelebt. Wir leben wie auf einer Insel in der Mitte des Nahen Ostens. Wir haben überhaupt keinen Kontakt mit unserem Umfeld. Wir können nicht morgens ins Auto steigen und nach Amsterdam, Brüssel oder nach Paris fahren. Bei uns kann man von so etwas nur träumen. Selbst in die Länder, mit denen wir Frieden geschlossen haben, Ägypten und Jordanien – wer wird es wagen, dahin zu fahren? Man muss sich mit der Sicherheit immer auseinandersetzen, weil man den Frieden gar nicht versteht, man weiß gar nicht, was das bedeutet. Als Sadat nach Israel kam, 1977, und sich sehr, sehr sorgfältig auf diese Reise vorbereitet hat, wusste er, wie man die Herzen der Israelis erobert und hat in allen seinen Reden immer von der Sicherheit der Israelis gesprochen, als sei das sein Problem gewesen. Natürlich war das eine Heuchelei, aber eine sehr kluge Heuchelei, weil er damit die Herzen der Israelis erobert und sie dazu gebracht hat, dass die israelische Bevölkerung auf die eigene Regierung Druck ausgeübte, das zu tun, was Sadat verlangte und was die israelische Regierung ursprünglich nicht zugeben wollte. Er, Sadat, wollte alle seine Gebiete zurück, und er bestand darauf. Bis auf den letzten Zentimeter, hat er immer gesagt. Ich weiß nicht, wie man einen Zentimeter im Sand, in der Wüste misst, aber gut. All dies hat er bekommen, nicht, weil die Regierung es ursprünglich gewollt hat. Warum hat dann die israelische Regierung genau, aber genau bis auf den letzten Zentimeter das getan, was Sadat wollte? Weil die israelische Bevölkerung Druck auf die eigene Regierung ausgeübt hat. Das Gleiche geschah dann auch mit dem Gazastreifen, und wir haben von Ägypten und von Jordanien tatsächlich Sicherheit bekommen. Mit Ägypten und Jordanien funktioniert es, vom Gazastreifen aus werden wir mit Raketen beschossen. Jetzt fürchten die Israelis, wenn wir das Westjordanland räumen, wird uns das auch von dort passieren. Der Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen ist schmerzlich, aber verträglich, weil der Gazastreifen für uns ein bisschen abseits liegt. Das Westjordanland liegt in der Mitte Israels. Die Reichweite der primitivsten Raketen der Hamas, wenn aus dem Westjordanland abgeschossen, treffen jede Stadt in Israel, den Flughafen, die Seehäfen, die hochtechnologische Industrie, auf der die israelische Wirtschaft beruht. Alles ist in der Reichweite der primitivsten Raketen. Das können wir uns nicht leisten. Die Regierung in Ramallah will uns Sicherheit gewährleisten und ist für die Mehrheit der israelischen Bevölkerung glaubwürdig. Nur hat sie die Mittel noch nicht zur Verfügung. Jetzt sagt Herr Frangi zu Recht, er versteht das, und da soll doch ein anderer die Sicherheit übernehmen und zwar für beide Seiten. Diese Sicherheit kann von den Völkern vor Ort nicht gewährleistet werden, deshalb wäre der Einsatz von Europäern oder Amerikanern wünschenswert. Es wird immer radikale Minderheiten geben, aber die Mehrheit der Bevölkerung auf beiden Seiten wollen den Frieden. Die Mehrheit muss man überzeugen. Wenn die Mehrheit entschieden ist, können wir alles durchsetzen, und dazu müssen wir die Sicherheitsfrage lösen.

Das sind die Tatsachen. – Aber lassen Sie mich eine Bemerkung zur Frage der U-Boote machen. Die U-Boote haben mit der palästinensischen Frage nichts zu tun, weil ein Angriff auf die Palästinenser mit U-Booten überhaupt keinen Sinn machen würde. Die U-Boote haben eine ganz andere Bedeutung. Sie schützten uns vor dem Irak, als Saddam Hussein uns aus einer Entfernung von 1000 Kilometern mit Raketen beschossen hat und alle dachten, dass er auch eine Atombombe herstellt. Chemische Waffen hat er auf jeden Fall gehabt –, und dann kam der Iran dazu, der immer wieder, immer wieder, verlautbaren ließ, sein Ziel wäre es, Israel zu vernichten. Sie versprechen uns die Vernichtung sogar, es ist eine Verheißung.

Saddam Hussein ist nicht mehr an der Macht, auch der iranische Präsident Mahmud Ahmadinedschad nicht mehr. Aber der echte Herrscher des Irans ist immer noch da, das ist Ali Chamene’i. Weder Ahmadinedschad noch der amtierende Präsident Hassan Rohani sind die echten Herrscher, die sind die Vertreter fürs Ausland.

Chamene’i hat kürzlich vor rund fünftausend Menschen eine Rede gehalten, in der er uns Israelis die Vernichtung verspricht, weil wir Hunde seien, kranke Hunde, denen man sich nicht nähern dürfe. Das ist die Rede eines Staatsoberhauptes. Für die Israelis ist klar: Dazu braucht er Atomwaffen. Das ist der Grund für die Abschreckungsmaßnahmen der Israelis, damit die Iraner wissen, dass sie uns nicht unbestraft vernichten können. Dazu brauchen wir die U-Boote, weil die U-Boote die Mittel zur Verfügung haben zurückzuschlagen, den Iran zu treffen, selbst wenn Israel vernichtet würde. Das wird natürlich nie passieren. Aber das ist das Spiel, so wie im Kalten Krieg. Wer brauchte so viele Atomwaffen? Nur damit der andere in Grenzen gehalten wird. Das ist das Spiel der U-Boote. Ob man dem zustimmt oder nicht, aber mit der palästinensischen Frage hat das nichts zu tun.

Ob Frau Merkel Israel zu sehr unterstützt und die Palästinenser nicht genug, das ist eine wichtige Frage. Ich habe Frau Merkel kennengelernt, als ich Botschafter in Bonn und sie Umweltministerin war. Da hatte ich Gelegenheit, mit ihr zu plaudern und ich weiß eine Sache: Sie ist sich nicht nur der deutschen Nazivergangenheit bewusst, sondern auch sehr der DDR-Politik Israel betreffend. Die DDR war ein feindseliger Staat Israel gegenüber, erheblich schlimmer als alle anderen kommunistischen Länder. Obwohl sie nur die Politik der Sowjetunion in die Tat umgesetzt hat, hat sie sich viel mehr bemüht, uns Schaden anzutun als andere kommunistische Länder. Die DDR hat Israel als unabhängigen Staat auch nie anerkannt, was alle anderen kommunistischen Länder getan haben, die einen Teil der Zeit zumindest mit uns auch diplomatische Beziehungen aufgenommen haben – die DDR nie. Ich war überrascht, wie sehr sie sich dessen bewusst ist. Sie hat Israel und den Juden gegenüber ein Schuldgefühl, das ich für übertrieben halte. Ich habe im Jahr 2010 ein Buch veröffentlicht unter dem Titel „An allem sind die Juden und die Radfahrer schuld“ – das stimmt auch. (Gelächter). Im Kapitel zum Thema „Deutsche und Israel“ werfe ich den Deutschen heute vor, dass sie immer noch befangen sind. Warum stört mich das? Das sollte mich doch gar nicht stören, das ist sehr gut für mich. Aber Israel und Deutschland haben sehr tiefgreifende Beziehungen in vielen Bereichen zueinander entwickelt. Deutschland ist ein unentbehrlicher Freund für Israel geworden – ich spreche jetzt aus dem israelischen Blickwinkel –, ein unentbehrlicher Partner, der wichtigste nach den Vereinigten Staaten. Diese Partnerschaft und Freundschaft wollen wir aufrechterhalten. Aber wie kann man eine Freundschaft aufrechterhalten, wenn man miteinander nicht ehrlich spricht? Wie kann man eine Freundschaft aufrechterhalten, wenn man glaubt, bestimmte Dinge nicht sagen zu dürfen? „Wenn ich das sage, da wird man mich als Antisemit betrachten, und Kritik darf ich nicht äußern.“ Das ist schädlich für uns und ich halte das für falsch. Wer ist es, der eine europäische Initiative oder eine europäische Unterstützung der amerikanischen Initiativen gegen Israel bremst? Das sind die Deutschen, weil sie befangen sind und sonst nichts. Nicht weil sie meinen, dass wir recht haben, überhaupt nicht. Die Analyse der Situation im Nahen Osten, die man in Berlin macht, ist genau dieselbe wie in Paris, London oder anderswo, aber die Befangenheit, die spielt die Hauptrolle.


Hans Mörtter: Wie sehen die Palästinenser die deutsche Politik?


Abdallah Frangi: Wir Palästinenser hatten von 1948 bis 1974 nicht einmal die Anerkennung, dass wir als Volk existieren. Wir besaßen noch nicht einmal einen richtigen Pass. Erst nach dem Osloer Abkommen, in dem sich Israel und die Palästinenser gegenseitig anerkannt haben, änderte sich auch die deutsche Politik uns gegenüber, so dass Deutschland das erste europäische Land war, das eine Vertretung in Jericho eröffnet hat. Alle anderen Europäer folgten diesem Beispiel. Und hier möchte ich hervorheben: Ein Drittel der Unterstützung von den Europäern für die Infrastruktur, die heute in der Westbank vorhanden ist, stammt aus Deutschland. Es werden uns Mittel zur Verfügung gestellt, die den Palästinensern die Möglichkeit des Aufbaus bieten. Ich möchte aber in keinem Fall das Gefühl vermitteln, damit die israelische Besatzungspolitik zu akzeptieren. Nein – wir kämpfen! Aber wir kämpfen nicht mehr mit der Waffe. Wir kämpfen mit der Unterstützung der Weltgemeinschaft, und die ist auf unserer Seite genau wie auch viele israelische Friedensaktivisten. Zwar haben wir zu Beginn der Auseinandersetzungen den bewaffneten Kampf geführt, mussten jedoch einsehen, dass wir Israel militärisch nicht besiegen können. Auch die Israelis haben versucht, uns abzuschaffen, uns mit militärischen Mitteln aus dieser Region zu vertreiben. Auch das ist nicht gelungen. Nun sind wir an dem Punkt angelangt, nach friedlichen Lösungen zu suchen. Wir haben erkannt, dass keiner von uns die Macht hat, die Entwicklung im Nahen Osten so zu ändern, wie wir es gerne hätten. Aber wir erleben einen Umbruch in dieser Region, die von außen beeinflusst wird. Hier betone ich: Ich bin nicht dafür, dass Israel Atomwaffen hat und U-Boote bekommt. Das bringt nur Unheil. Denn all die Mittel, die im Nahen Osten in Waffen investiert worden sind, hätten ausgereicht, die gesamte Wüste grün zu machen. Am liebsten wäre mir, wenn sämtliche Waffen, Atomwaffen und normale Waffen, einfach im Meer versenkt werden würden. (Applaus).

Es gibt viele Palästinenser, die den bewaffneten Kampf fortsetzen wollen, bis wir eines Tages Israel von der Landkarte weggewischt haben. Ich sage ganz offen: Das ist eine Illusion und ich möchte nicht hinter Illusionen herlaufen. Ich als Palästinenser möchte gerne ein normales Leben führen und dass die Kinder, die heute in Palästina und Israel leben, sicherer sind und nicht eines Tages als Nachbarn aufeinander schießen, sondern dass sie in Frieden, Freiheit und gegenseitigem Respekt miteinander reden. Wenn man diesen Wunsch aufgibt, dann gibt man sich selbst und auch jede Chance auf Zukunft in dieser Region auf.

"Die israelische Sicherheitspolitik frisst die Zukunft aller und der Region auf"

Hans Mörtter: Der Fundamentalismus ist weltweit auf dem Vormarsch. Um so mehr müssen wir die Dummheit entlarven, dass Gewalt, Krieg und Töten eine Zukunft in sich trägt, sondern eine Verdammnis auf Generationen hin bedeutet. Wie geht man mit dem Fundamentalismus auf beiden Seiten um?


Abdallah Frangi: In Israel gab es einmal das Friedenscamp „Peace Now!“ Nach der Ermordung Rabins und seit der Unterzeichnung des Osloer Abkommens, existiert es nicht mehr. Diese Kraft ist leider nicht mehr vorhanden. Auf palästinensischer Seite haben wir das Problem, dass ein Teil der Bevölkerung nicht mehr an eine friedliche Lösung glaubt, wie auch die Hamas im Gazastreifen. Mit der Hamas haben wir praktisch einen Bruderkrieg geführt, weil sie die friedvolle Politik von Präsident Mahmud Abbas und Arafat vor ihm, nicht akzeptieren. Sie haben keine Hoffnung und glauben, dass wir Palästinenser keinen Erfolg aufweisen werden, wenn wir die Friedenspolitik fortführen. Aber nicht nur bei den Palästinensern, sondern auch bei den Israelis gibt es Gegner dieser Politik, die glauben, den Anspruch auf das ganze Land zu haben. Und diese Siedler errichten ihre Häuser auf palästinensischem Gebiet und sie werden von der israelischen Armee geschützt. Auf internationaler Ebene findet diese Aktion keine Zustimmung und es wächst die Unterstützung für einen Palästinenserstaat. Immer mehr Länder investieren bei uns, die USA, die Europäische Gemeinschaft, die Chinesen, die Russen. Wir sind darauf vorbereitet und haben bereits die Infrastruktur aufgebaut. Wir warten nur auf den Zeitpunkt, dass sich die israelische Armee aus der Westbank entfernt. Die Israelis wollen aber erst gehen, wenn sie Sicherheit haben. Wir betonen, die Sicherheit können nur die Amerikaner und die Europäer garantieren, indem sie ihre Streitkräfte dort hinbringen. So können die Israelis sicher sein, dass von der Westbank keine Angriffe auf Israel stattfinden, wenn ein Palästinenserstaat entsteht. Wir sagen auch weiterhin, dass wir nicht die Absicht haben, eine Armee in dem palästinensischen Gebiet aufzubauen. Wir wollen lediglich Sicherheitsorgane, damit wir Ordnung schaffen, aber wir brauchen keine Armee, wir wollen keine Panzer, wir wollen keine Flugzeuge, keine Raketen. Diese Politik wird jetzt von der Weltgemeinschaft unterstützt.


Hans Mörtter: Die umliegenden arabischen Staaten befinden sich auch im Umbruch.


Abdallah Frangi: Diese neue Entwicklung begann in Tunesien und weitete sich dann auch auf Ägypten aus, wo die Menschen auf die Straße gingen in der Hoffnung, dass sie ihre Regierung ändern und demokratische Institutionen schaffen könnten. Aber es entwickelte sich anders als erwartet. Es wurde eine islamische Ideologie verfolgt, die von der Mehrheit der Bevölkerung nicht getragen wurde. Natürlich wird die „Demokratie“ im arabischen Raum eine andere sein, als wir sie in Europa haben. Wenn man bedenkt, wie lange es in Europa gedauert hat, bis die Europäer diesen demokratischen Weg eingeschlagen haben. Bei uns findet eine andere Entwicklung als in Europa statt. Die Infrastruktur unserer Gesellschaft ist nicht so weit, dass man einen demokratischen Prozess umsetzen könnte. Es gibt Kräfte, die akzeptieren die Demokratie, wenn sie die Wahlen gewinnen. Wenn sie nicht gewinnen, werden sie Waffen einsetzen.  Israel heute ist ein Staat im Nahen Osten und nicht ein europäischer Staat, obwohl sie gute Beziehungen zu den Europäern, zu den Amerikanern haben und von hier ihre Unterstützung bekommen. Aber wenn Israel weiterhin existieren will, dann muss es sich arrangieren. Das heißt erst mal mit den Palästinensern und der gesamten arabischen Umgebung. Israel kann die arabische Welt nicht für sich gewinnen, wenn es weiterhin die Besatzungspolitik fortführt. Ich glaube, wenn wir unseren Staat haben, dann wird Israel Frieden mit der gesamten arabischen Welt bekommen. Dieses Angebot von Seiten der arabischen Staaten existiert bereits seit 2002. Aber solange die Palästinenser weiterhin besetzt, weiterhin unter Kontrolle der Armee leben, solange wird das Misstrauen in der Umgebung gefestigt, es wird wachsen und Motivation für die radikalen Kräfte sein, um Israel abzulehnen.


Hans Mörtter: Mir ist aufgefallen, dass die Siedlungs- und militärische Sicherheitspolitik eine Angstphobie-Politik ist. Es ist eine Sicherheitsphobie: wir schützen uns um jeden Preis, und alle greifen uns an, und alle wollen uns vernichten. Diese Sicherheits- und Besatzungspolitik in den besetzten Gebieten, frisst Unsummen von Steuergeldern in Israel auf. Das wirkte sich auf das Bruttosozialprodukt so fatal aus, dass 2011 die jungen Leute durch die Straße gegangen sind und damit ihren Unmut deutlich gemacht haben. Diese Politik zerstört auch die Wirtschaftskraft Palästinas in der Westbank. Sie ist um ca. 80 Prozent auf jetzt nur 20 Prozent gesunken aufgrund der restriktiven Besatzungspolitik. Die israelische Sicherheitspolitik frisst die Zukunft aller in der Region auf. Das ist mein Eindruck. – Aber ich möchte noch mal auf diese ganz neue Situation eingehen, nämlich dass jetzt neun Monate eine Kommission unter der Vermittlung von John Kerry, US-Außenminister, tagt. Es sind zwei Verhandlungskommissionen, das ist neu – die eine politische, die versucht, die Zweistaatenlösung zu definieren, wie sie umsetzbar ist, und eine zweite, eine Militärkommission, die genau das zum Thema hat: Wie definiert sich Sicherheit in Zukunft in Nahost? Das hat es so in dieser Weise, glaube ich, bis jetzt nicht gegeben. Der dritte Aspekt dabei ist, dass zum Schluss nicht die Regierungen, d. h. die Parteien, sondern das israelische und palästinensische Volk über das ausgehandelte Friedensabkommen abstimmen sollen. Man will also nicht den politischen Parteien die Zukunft der zwei Staaten Israel und Palästina überlassen.


Avi Primor: Deshalb hat man das so gemacht. Das rechte Lager hat diese Gesetzgebung erzwungen mit dem Gedanken, dass vielleicht die Regierung unter amerikanischem Druck den Palästinensern nachgeben wird, aber dann wird die Volksabstimmung dagegen votieren. So haben sie es gemeint.


Hans Mörtter: Okay, gut. Nur wendet sich das jetzt gegen sie. Die Menschen wollen Frieden.


Abdallah Frangi: Wir haben Verständnis für das Sicherheitsbedürfnis der Israelis. Präsident Mahmud Abbas hat seine Bereitschaft für Verhandlungen gezeigt und sich 35 Mal in Jerusalem mit dem Ministerpräsidenten Ehud Olmert getroffen. Er hat auch versucht, diesen Aspekt zu berücksichtigen, um die Öffentlichkeit in Israel zu gewinnen und von seinen Absichten zu überzeugen. Aber die Realität sieht anders aus. Abbas lebt nicht in einem Vakuum, er lebt unter Menschen, die gedemütigt werden und sehen, wie jeden Tag neue Siedlungen entstehen, die schnell erweitert werden. Diese Siedler verfügen über das Wasser und über das Land und genießen den Schutz durch die Armee. Sie schaffen Fakten und die Palästinenser müssen sich damit abfinden. Deswegen können die Palästinenser nicht mehr diese Geduld aufbringen und ihrem Präsidenten sagen: „Ja, gut, du kannst mal diese Verhandlungen monatelang fortführen, du musst mal die Israelis überzeugen, dass wir für ihre Sicherheit garantieren. Aber so kann das nicht weiter gehen. Wir möchten auch eine Garantie haben, dass wir nicht von dem Land rausgeschmissen werden, das uns gehört.“ Denn das ist der Alltag der Palästinenser. Sie erleben jeden Tag, dass z. B. in Ostjerusalem, ihre Häuser von den Siedlern zerstört werden, die dann dort auf palästinensischem Boden ihre Wohnungen errichten . Diese Siedler werden von der israelischen Regierung unterstützt, bekommen sogar Baumaterial zur Verfügung gestellt, während ein Palästinenser noch nicht einmal die Genehmigung für die Renovierung seines Hauses erhält.

Die Situation im Westjordanland ist mit Ägypten nicht zu vergleichen. Ägypten ist ein einflussreicher Staat und Sadat konnte nach dem Friedensabkommen mit Israel eine Pufferzone einrichten. Zu diesem Zeitpunkt war der Sinai fast leer. Die Ägypter haben auch eine eigene Armee, sind ein eigenständiger Staat. Wir Palästinenser haben diese Möglichkeiten nicht und werden weiterhin unterdrückt, weiterhin besetzt, und haben nicht einmal die Möglichkeit, uns zu wehren. Auch wir möchten, dass die Israelis das Gefühl der Sicherheit bekommen, aber auch wir brauchen die Chance, als gleichberechtigte Partner mit ihnen reden zu können. Wir haben in diesem Punkt überhaupt nichts dagegen, wenn Amerikaner, Europäer oder andere die Sicherheit gewährleisten, im Gegenteil. Nur der jetzige Zustand, in dem wir leben, ist nicht mehr hinnehmbar und viele Palästinenser verlieren ihre Geduld. Aufgrund ihrer Geschichte, haben die Juden das Gefühl, dass sie verfolgt werden, und die Israelis behaupten: „Wir werden nie wieder zulassen, dass sich die Geschichte wiederholt und uns das gleiche wie in den 30er- und 40-er Jahren in Nazi-Deutschland widerfährt.“ Aber das wird nicht so kommen, der Weltsicherheitsrat könnte garantieren, dass ein Palästinenserstaat neben dem Staat Israel entsteht. Die arabischen Staaten haben auch die Bereitschaft, Israel in den Grenzen von 1967 anzuerkennen, wenn die Israelis einen Palästinenserstaat akzeptieren – in den Grenzen von 1967. Vor Kurzem haben auch die islamischen Länder das Gleiche, darunter auch Iran, ihre Unterschrift geleistet. Das heißt, Israel hat die Chance mit allen arabischen und islamischen Staaten Frieden zu schließen.


Hans Mörtter: Präsident Obama scheint aufgewacht zu sein, da ist Bewegung im Spiel. Wie müsste eine – unbefangene – deutsche Politik aussehen, die den Prozess den Friedensprozess beschleunigt?


Avi Primor: Bevor ich diese Frage beantworte, die wirklich die Hauptfrage jetzt ist, möchte ich mir zwei Bemerkungen erlauben: Zum einen, Herr Frangi, was Sie gesagt haben von den Verhandlungen zwischen Ihrer Regierung und unserem damaligen Ministerpräsidenten Olmert stimmt vollkommen, aber: Als Olmert Ihrem Präsidenten ein Angebot gemacht hat, hat er es abgelehnt. Wenn heute Netanjahu das selbe Angebot wie Olmert machen würde, hätte man es gerne akzeptiert. Ich weiß, dass man damals an Olmert nicht mehr geglaubt hat, weil er unter Korruptionsverdacht stand und man nicht wusste, wie lange er an der Macht bleibt. Die Tatsache ist geblieben, dass ein vernünftiges Angebot der israelischen Regierung von den Palästinensern abgelehnt wurde. Das kann man diskutieren, aber das ist Geschichte.


Abdallah Frangi: Bei Olmert war damals klar, dass er nicht mehr lange Ministerpräsident bleiben würde, das war sogar in israelischen Zeitungen zu lesen. Wie sollten wir einen Friedensvertrag mit einem Ministerpräsidenten unterschreiben, der vielleicht nach sechs Monaten weggeht oder der nicht in der Lage wäre, das noch umzusetzen, was er mit den Palästinensern vereinbart hat?


Avi Primor: Zweifellos. – Doch ich meine, hätte Olmert einen Friedensvertrag mit dem Präsidenten Abbas unterschrieben, dann hätte es seine Regierung unterstützt, da hätte es die Mehrheit der israelischen Bevölkerung bekommen, und dann wäre es nicht mehr zu ändern gewesen. Es gibt dafür ein Beispiel: Der ägyptische Präsident Sadat hat mit uns Frieden geschlossen, Mubarak hat ihn fortgesetzt, und dann kamen die Muslimbrüder, die so vehement gegen den Friedensprozess und gegen den Friedensvertrag waren – aber die haben ihn nicht abgeschafft, die haben ihn aufrechterhalten. Sie hätten vielleicht selber so einen Friedensvertrag nicht unterschreiben können, aber hat man einmal diesen Friedensvertrag, dann versteht doch jeder Ägypter, dass es nicht aus Liebe für Israel ist, dass Sadat Frieden geschlossen hat, sondern aus ägyptischem Interesse. So ist es mit Jordanien und könnte es mit Syrien sein. Ich glaube, hätten wir den Frieden mit Bashar al- Assad geschlossen – und wir waren ganz nahe dran –, dann hätte jede syrische Regierung diesen Frieden aufrechterhalten. Hätte Olmert den Frieden damals mit den Palästinensern geschlossen, wäre das vermutlich auch bestehen geblieben.


Hans Mörtter: Das ist nicht passiert.


Technische Voraussetzungen für eine Räumung der Siedlungen

Avi Primor: Der Rest ist Geschichte. – Aber eine zweite Bemerkung wollte ich mir erlauben, weil die eine Grundbemerkung ist: Sie haben gesagt, Herr Frangi, mit Recht, dass die Siedlungen ein Hindernis für den Frieden sind, und die wachsen immer weiter und sie entwickeln sich natürlich mit Mitteln des Staates, wir haben nicht das eigene Geld, all das stimmt. Dann stellt man die Frage: Ist eine Zweistaatenlösung technisch überhaupt noch machbar? Sagen wir, die Amerikaner sind wirklich diesmal beharrlich und entschieden und es käme zu einer Räumung der Siedlungen: Da gibt es Präzedenzfälle wie die Räumung der Siedlungen auf ägyptischem Boden und auf dem Gazastreifen. Die Dimensionen sind die gleichen, aber schauen Sie sich einmal die echte Situation an. Es gibt heute im Westjordanland so etwa 350.000 Siedler. Das ist eine große Masse und die sind entschieden, beharrlich, militant und noch schlimmer. Wie räumt man so etwas? Gibt es eine israelische Regierung, selbst wenn sie den Willen dazu hat, die es tun kann? Ich sage Ihnen, ja und warum. Wir haben mit den Palästinensern schon längst vereinbart, dass wir den Palästinensern nicht alle Gebiete, die sie 1967 verloren haben, zurückgeben. Wir geben ihnen genauso viel Territorium zurück, wie sie verloren haben, aber nicht unbedingt alles dasselbe. Ein paar Prozente des Westjordanlandes sollte Israel annektieren dürfen und dafür den Palästinensern genauso viele Quadratkilometer aus dem Kernland Israel geben. Das Prinzip ist akzeptiert. Warum wollen wir diese paar Prozente, selbst Leute wie Olmert und andere? Weil das die paar Prozente sind, wo sich die großen Blöcke der Siedlungen befinden, und die schließen sich an das israelische Territorium an. Dort leben auch keine Palästinenser. Wenn wir diese drei Blöcke annektieren dürfen, dann haben wir damit Land für 260-, 270.000 Siedler annektiert, und dafür bekommen die Palästinenser genauso viel Land im Rahmen einer Vereinbarung von Landaustausch. Jetzt bleiben so etwa 70.000 Siedler in verstreuten Siedlungen überall im Westjordanland übrig. Auch da ist die Lage nicht so klipp und klar, wie man sie immer darstellt. Sind wirklich alle 70.000 beharrliche Fanatiker? Zumindest die Hälfte, wenn nicht mehr, sind nicht aus ideologischen Gründen da, sondern weil sie wirtschaftliche Vorteile bekommen haben. Der größte Siedlungsbauer in Israel war Sharon, der aus dem Budget von jedem Ministerium, das er bekleidet hat, Siedlungen gebaut hat – überall, immer. Wo hat er die Siedler gefunden? Er ging in die ärmsten Teile Israels, in die Vororte der Großstädte, wo Leute wirklich in Armut leben. Familien, die mit drei Kindern auf 25 Quadratmetern wohnten, waren gerne bereit, in eine Villa zu ziehen, die allerdings im Westjordanland lag. Wenn jemand seinen Lebensstandard so schnell auf einmal verbessern kann, warum nicht. Auf mindestens die Hälfte der Siedler trifft das zu. Diese Leute kann man sehr schnell überzeugen, wenn man ihnen Entschädigungen anbietet. Wenn sie zurück ins Kernland Israel können und bessere Lebensbedingungen garantiert bekommen, da kommen sie begeistert. Dann bleiben 30-, 40.000 überzeugte Fanatiker übrig, die zu allem bereit sind, wirkliche Faschisten. Trotzdem können wir räumen, wenn wir wollen, wie wir das in Ägypten und in dem Gazastreifen getan haben, und wir werden es wollen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung in Israel entschieden ist, und das ist wiederum die Frage der Sicherheit. Jetzt komme ich auf Obama zu sprechen.


Hans Mörtter: Obama und eine nicht mutige deutsche Politik.


Avi Primor: Ja, das gehört dazu. Anders als seine Vorgänger hat Obama sich fast sofort mit dem Nahen Osten beschäftigt, als er sein Amt erstmals übernommen hat. Nur hat er eine falsche Taktik angewandt: Er war sehr entschieden, er war sehr beharrlich, hat sich sehr bemüht, aber er hat nur auf die Siedlungen gesetzt. Er sah die Siedlungen als Hindernis im Friedensprozess an und konzentrierte sich darauf. Natürlich sind die Siedlungen das größte Hindernis, aber taktisch gesehen war es falsch, das so zu behandeln. Wenn er sagt, Moratorium auf Siedlungsbau, und unter Druck gibt Netanjahu nach, ja, dann gibt Netanjahu nach, aber nur zehn Monate lang. Jedes Kind in Israel weiß, dass man damit feilschen kann, dass man damit mogeln kann und dass man mogelt. Die richtige Taktik sollte sein, als ersten Punkt auf dem Verhandlungstisch die Frage der Grenzen zu setzen. Wo genau soll eigentlich die Grenze zwischen dem Staat Israel und dem zukünftigen Palästinenserstaat verlaufen? Wenn wir da eine Lösung finden können – und natürlich nur unter amerikanischem Druck, sonst werden wir nie eine Vereinbarung finden –, dann wird es keine Siedlungsfrage mehr geben, weil selbst die Fanatiker in Israel es nicht wagen werden, jenseits der Grenze Siedlungen zu bauen – das ist doch verlorenes Geld. Man sieht das am Gazastreifen, eine Grenze, die Israel auch anerkennt. Es gibt keinen Menschen in Israel, der jenseits der Grenze mitten im Gazastreifen Siedlungen bauen wollte, nicht mal der Verrückteste.


Hans Mörtter: Ja, aber das wäre ja auch schon Wahnsinn, weil es ist ein Gefängnis, ist ein Getto.


Avi Primor: Das ist eine ganz andere Frage, aber Sie haben vollkommen recht. Der Gazastreifen hat eine international anerkannte Grenze, die Palästinenser aber haben das nicht, und wir haben das auch nicht, weder die Ramallah-Regierung noch unsere Regierung hat eine international anerkannte Grenze. Wenn wir die Grenze hätten, dann wäre auch eine Lösung der Siedlungsfrage machbar. Ich gehe davon aus, dass Obama das verstanden hat und er das als Hauptpunkt in den Verhandlungen erzwingt. Das war Nummer eins. Nummer zwei: Er besteht darauf, dass die Verhandlungen geheim bleiben. Es sickert tatsächlich nichts durch. Sie sehen in den Medien gar nichts, wir sehen in den Medien gar nichts, die meisten Minister in der israelischen Regierung haben nicht die geringste Ahnung, was sich in den Verhandlungen abspielt. Es gibt nur einen Sprecher der Verhandlung, das ist der amerikanische Botschafter, und der hat natürlich die Anweisung, nicht zu sprechen. Die Amerikaner wollen nicht sprechen. Man weiß nicht, was passiert ist, also kann es keinen Druck von den Extremisten beider Seiten geben.


Hans Mörtter: Dann können die frei denken und verhandeln.


Avi Primor: Egal auf welcher Seite. Das ist der zweite Punkt, der mir den Eindruck gibt, dass es den Amerikanern diesmal tatsächlich ernst ist. Ein dritter Punkt ist, dass die Amerikaner an den Verhandlungen teilnehmen. Der amerikanische Botschafter nimmt an den Verhandlungen teil, das gab es bis heute noch nie. Und dann gibt es noch das, was Sie schon erwähnt haben: Parallel zu diesen politischen Verhandlungen gibt es auch geheime Verhandlungen in Sachen Sicherheit – mit palästinensischen, israelischen und amerikanischen Sicherheitsbehörden. Warum? Damit, wenn man in den politischen Verhandlungen eine Vereinbarung trifft, diese Vereinbarung mit Sicherheitsmaßnahmen, die überzeugend sind, flankiert werden kann, damit die Bevölkerung dann die politische Vereinbarung tatsächlich unterstützt und damit die Extremisten in der Minderheit bleiben, wie es mit Ägypten und Jordanien war. Ob das so sein wird oder nicht, weiß ich nicht. Wie lange die Amerikaner darauf beharren würden, weiß ich nicht. Nur bleibt die Frage der Sicherheit, und da bestehe ich darauf, dass Obama nicht in der Lage ist, aus innenpolitischen Gründen, die Sicherheitsfrage des Nahen Ostens alleine zu lösen, wenn er nicht zumindest Rückenwind von den Europäern bekommt. Und die Europäer werden es tun, wenn die Deutschen mitmachen, nicht wenn die Deutschen alleine bleiben.

Jetzt sage ich Ihnen noch ein Wort zur Befangenheit der Deutschen: Im Jahr 2006 wurden Truppen in den Südlibanon entsandt. Die Deutschen haben gezögert, weil da vielleicht deutsche Truppen auf israelische Truppen schießen könnten oder israelische auf deutsche, das können wir uns nicht leisten. Als man den israelischen Ministerpräsidenten dazu befragte, sah er keinen Unterschied zwischen deutschen oder französischen Truppen. Für ihn sind alles parlamentarische Demokratien, das sind alle unsere Freunde, warum sollen wir da einen Unterschied machen. In Israel gab es keine Befangenheit, in Deutschland gab es sie.


Abdallah Frangi: Zum Schluss möchte ich betonen, dass ich der Meinung bin, dass die Grenzen bereits feststehen. Es ist vom Weltsicherheitsrat zweifelsfrei beschlossen worden, dass die Westbank, Ostjerusalem und der Gazastreifen ganz klare Grenzen haben. Deswegen kann man nicht sagen, Gaza hat eine international anerkannte Grenze und die Westbank nicht. Auch in dem Osloer Abkommen sprechen beide Seiten von der Westbank und dem Gazastreifen als eine geographische Einheit. Wenn wir diese Grenzen noch einmal infrage stellen, dann wird es sehr schwer für die Palästinenser, weiterhin Verhandlungspartner zu bleiben. Ich glaube, die Amerikaner werden ihre Bemühungen intensivieren und sich weiterhin für eine friedliche Lösung einsetzen. Sie haben auch die Unterstützung der Europäischen Union, einschließlich der Deutschen. Die Europäer haben sich klar für die Zweistaatenlösung ausgesprochen und die Siedlungspolitik als illegal bezeichnet. Ich glaube, die deutsche Haltung heute hat sich geändert, und wenn die große Koalition kommt, dann wird eine bessere Politik in dem Nahen Osten eher möglich sein.


Hans Mörtter: Vielen Dank! Wir nehmen also mit auf den Weg, dass wir Deutschen erwachsen werden müssen gegenüber israelischer Politik, damit eine wirkliche Partnerschaft entstehen kann. Ich bedanke mich für diesen Abend und dass Sie beide gekommen sind.


Avi Primor: Ich möchte ganz kurz ein Schlusswort sagen: Herr Frangi und ich haben es nicht immer sehr leicht bei uns zu Hause. Die Extremisten sind zahlreich und, wie schon gesagt, zumindest militant, wenn nicht viel schlimmer. Ich glaube, dass Herr Frangi viel mehr Risiko eingeht als ich, und ich muss das nicht erklären und er weiß es für sich. Ich brauche Zivilcourage, er braucht viel mehr Courage als nur zivile. Aber eines will ich über ihn sagen: Was er weiß, ist, dass nur tote Fische immer mit dem Strom schwimmen. Er ist kein toter Fisch!

Nachwort: In dem Gespräch wurde auf gendergerechte Sprache verzichtet, die wir nachträglich auch nicht eingeführt haben. Es ist aber klar, dass den Beteiligten alle Menschen, Männer, Frauen und Kinder am Herzen liegen.