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Das Ausmaß von Kriegstraumatisierungen - Kriegstraumata II

Gespräch über Kriegstraumata mit Curt Hondrich / Foto: Helga Fitzner
Gespräch über Kriegstraumata mit Curt Hondrich / Foto: Helga Fitzner

Der Journalist Curt Hondrich *) war am 18. April 2010 das erste Mal zu einem Themengottesdienst in der Lutherkirche, der sich um die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen drehte. Diese gehen bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618 - 1648) zurück und sind Gegenstand eingehender Forschung. Die Erkenntnisse sind so profund und bahnbrechend, dass sie  das Potenzial haben, unseren künftigen Umgang mit Konflikten gewaltloser zu gestalten. Im Nachgang dazu gab er der Redakteurin der Lutherkirche Helga Fitzner ein Interview, in dem er die Zusammenhänge erläuterte und sie auch in Bezug zu seinen eigenen Kriegserfahrungen als Kind setzte.
Das Interview fand am 1. September 2010 statt.

von
Helga Fitzner

Helga Fitzner: Herr Hondrich, Sie haben vor einigen Jahren, als Sie noch Redakteur beim WDR-Hörfunk waren, die Autorin Sabine Bode auf das Thema der Kriegskindergeneration angesetzt. Daraus hat sich Frau Bodes viel beachtetes Buch „Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen“ (2004) ergeben, dessen Titel allgemein namensgebend wurde für die Kinder und Jugendlichen, die ein paar Jahre vor oder während des Zweiten Weltkrieges geboren wurden. Mittlerweile hat Prof. Dr. Hartmut Radebold ein zentrales Kriegskinder-Archiv gegründet, in dem die Geschichten dieser Generation gesammelt und wissenschaftlich ausgewertet werden. An der Entwicklung dieser Idee waren Sie beteiligt. Herr Hondrich, wie sind Sie selber auf das Thema und seine Bedeutung gestoßen?

Curt Hondrich: Genau weiß ich das nicht mehr. Einer der Gründe war sicherlich der Zweite Golfkrieg (1990 – 1991). Ich habe im Fernsehen die digitalen Bilder von diesen sogenannten klinisch sauberen Attacken gesehen, von denen wir erst hinterher erfahren haben, dass sie aus dem Archiv kamen und von den US-Militärs lanciert worden waren. – Bei diesen Bildern kamen bei mir ganz merkwürdige Emotionen hoch von beängstigend bis „raus hier“. Ich habe mich hinterher gefragt, was das eigentlich genau war und keine Antwort gefunden. Ich hatte vorher eine Analyse gemacht, die wir nach zwei Jahren abbrachen, weil meine Therapeutin und ich nicht weiterkamen. Nach dem Zweiten Golfkrieg bekam ich aber eine dumpfe Ahnung, dass meine Probleme mit meinen Erlebnissen während des Zweiten Weltkriegs zu tun haben könnten. Ich bin 1939 einen Monat vor Kriegsbeginn geboren, meine frühkindliche Sozialisation hat also komplett im Krieg stattgefunden. Zu Kriegsbeginn war die Stimmung – wie wir wissen – noch ganz euphemistisch, aber 1941, als ich zwei Jahre alt war, begannen die ersten großen Bombenangriffe auf meine Heimatstadt Köln. Wir waren dabei, wir haben den feuerroten Himmel gesehen und mitbekommen, wie Fallschirmjäger vom Himmel fielen und in der Luft abgeschossen wurden.

Helga Fitzner: Erinnern Sie sich selbst noch daran oder wissen Sie das aus Erzählungen?

Curt Hondrich: Daran erinnere ich mich noch selbst. Das ist nicht weg. Das sind kleine Erinnerungsinseln, die geblieben sind. Ich kann mir diese Bilder völlig emotionslos anschauen, und heute weiß ich, dass diese Emotionslosigkeit ein Symptom für eine Traumatisierung ist.

Helga Fitzner: Das könnte genauso gut ein Videospiel sein?

Curt Hondrich: Das könnte genauso gut ein Videospiel sein. Ich sehe das und fühle keinerlei Regung dabei. – Nur als dann die Bilder vom Golfkrieg im Fernsehen kamen, da tat sich plötzlich etwas. Ich hatte Angstgefühle und bekam Panik, wenn ich Feuerwehrsirenen hörte, die vorher nichts in mir ausgelöst hatten. Da ich einen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg vermutete, bekam ich die Idee zu einer Radiosendung über Luftschutzkellerkinder. Die Journalistin Sabine Bode war damals Autorin bei mir und hat diesen Beitrag gemacht. Auch für sie war das der Einstieg ins Thema und sie hat dann ihre wichtigen Bücher über die Kriegskindergeneration und die Kriegsenkel publiziert.

Helga Fitzner: Diese Bücher und auch die einiger anderer Autor und Autorinnen mit dieser Thematik möchte ich fast bahnbrechend nennen, denn endlich wurden Dinge ausgesprochen und angesprochen – nach einer langen Zeit des Schweigens.

Curt Hondrich: Dass meine Generation geschwiegen hat, liegt sicherlich mit daran, dass nach dem Krieg die Bilder vom Holocaust so dominant waren und auch die Schuld- und Verantwortungsfrage für das, was in diesen verdammten zwölf Jahren in Deutschland gelaufen ist, so drängend waren, dass die eigenen Verletzungen keine Rolle spielten.

Helga Fitzner: Diese Erfahrung habe ich auch bei den Gesprächen zu meinem Buch „Angerichtet“ gemacht, in dem ich die einige Senioren und Seniorinnen der Lutherkirche befragt habe. Die Täterschaft des deutschen Volkes stand so im Vordergrund, dass das Leiden und die vielen zivilen Opfer auf deutscher Seite völlig zurückgedrängt wurden.

Curt Hondrich: Ich würde uns nicht Opfer nennen. Ich weiß nicht, ob das aus Rücksicht auf die Holocaust-Opfer ist. Die Juden, die Sintis und Roma, die Homosexuellen, die politisch Verfolgten: Das sind für mich die wirklichen Opfer dieses Regimes. Die anderen sind für mich Kriegsverletzte. Wir waren vor einigen Monaten in Israel und haben dort mit Psychoanalytikern und Gerontologen gesprochen. Die machten uns die Eröffnung, dass es ein Unterschied ist, ob man persönlich verfolgt oder ob man bombardiert wird. Das ist ein großer Unterschied, den auch ich gerne beibehalten würde. Allerdings gibt es im Krieg auch Situationen, in denen die Grenze fließend ist.

Helga Fitzner: Die Verfolgten waren als Personen wirklich „gemeint“, bei den Bombardierungen hat man einfach Pech gehabt?

Curt Hondrich: Man ist einfach schicksalhaft unter Bombardement. Die Verfolgung aber ist kein Schicksal, sondern Niedertracht. Es ist einfach nur böse. Krieg ist Krieg, und es ist ein Wahnsinn, wenn ein solcher Krieg angefangen wird, ganz egal in welcher Ecke der Welt. Aber da geht es nicht um mich persönlich. Ich kann nicht mit dem Schicksal hadern, wenn ich in einen Wolkenbruch gerate. So ähnlich ist es beim Krieg. Ich bin halt gerade da, wo die Bomben abgeworfen werden oder gerade da, wo eine Autobombe hochgeht. Das ist Fatum. Bei den Bombardierungen war es auch insofern anders, als die meisten Angriffe vorhersehbar waren. Es gab Fliegeralarm, und man konnte in die Luftschutzkeller oder in die Bunker. – Das war allerdings keine Garantie dafür, dass man davon kam.

Helga Fitzner: Es gibt aber auch Berichte von deutschen Zivilist:innen, sogar Kindern, die von Tieffliegern gejagt und beschossen worden sind. Die Tiefflieger waren nah genug, um zu sehen, dass das Kinder waren. Die waren dann „gemeint“.

Curt Hondrich: Das ist ein solcher Grenzfall. Natürlich gab es Tiefflieger. Ich bin auch beschossen worden. Unsere kleine Gruppe bestand aus einer Frau und drei Kindern. Das war für die Piloten deutlich zu erkennen. Die haben uns überflogen, wieder gedreht und uns dann gejagt.

Helga Fitzner: In dem Moment waren Sie aber „gemeint“.

Curt Hondrich: Ja, in dem Moment ist man „gemeint“ und auch völlig hilflos. Man läuft wie ein Hase und neben einem spritzt der Dreck hoch.

Helga Fitzner: Das ist furchtbar. Am Ende haben Sie noch froh sein müssen, dass es nur Dreck war.

Curt Hondrich: Wir haben Glück gehabt – oder die haben bewusst daneben geschossen und wollten uns nur Angst machen. Das war schon eine schreckliche Erfahrung: Hier will dir einer ans Leben. Aber diese individuelle Bedrohung war situativ. Bei den Holocaust-Verfolgten blieb die Bedrohung ständig und hatte System.


KINDERERZIEHUNG IM DRITTEN REICH UND DANACH

Helga Fitzner: Sind die Erwachsenen danach irgendwie auf die Kinder eingegangen?

Curt Hondrich: Nein. Ich bekam hinterher noch Ärger, weil ich in der Panik einen Schuh verloren hatte. Den haben wir hinterher zum Glück wiedergefunden. Das sind so Sachen, dass Kinder auch noch gescholten werden, nachdem sie um ihr Leben gerannt sind. Für uns Menschen sind Gegenstände offenbar sehr wichtig, vor allem wenn wir in einer Notsituation sind, in der wir Mangel leiden.

Helga Fitzner: In dieser Zeit hat man sich über die gefühlsmäßigen Belange von Kindern wenig oder gar nicht gekümmert.

Curt Hondrich: Das war ganz im Zuge der Haarer-Pädagogik. Johanna Haarer hat damals den Bestseller geschrieben „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ (1934) und hat die Pädagogik vertreten, dass das kleine Kind frühzeitig von der Mutter getrennt werden muss, damit es stabil und hart wird. Man sollte es schreien lassen und die elementarsten Bedürfnisse wie Füttern, Waschen und Wickeln nur nach einem festen Zeitplan befriedigen. Das Buch von Johanna Haarer gab es bis in die 1980-er Jahre zu kaufen. Aus dieser Ecke kommen Sprüche wie: „Ein Junge weint nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Das bedeutet, dass ein Kind sich nicht so anstellen und Unangenehmes wegstecken soll. Das war die Ideologie dahinter. Auch nach dem Krieg. Da war die Adenauer-Gesellschaft auch noch eine Haarer-Gesellschaft, wenn Sie so wollen. Wir durften doch nichts: „Rasen betreten verboten“. Überall waren Verbotsschilder.

Helga Fitzner: Kindsein war verboten.

Curt Hondrich: Das war damals völlig normal und davon war auch mein Elternhaus geprägt. Kinder hatten zu gehorchen. Bis nach der Adenauer-Gesellschaft gab es diese autoritäre Erziehungsstruktur, von der die Kriegskindergeneration enorm geprägt war. Dazu gehörte auch: Stell dich nicht so an, andere haben es noch viel schlimmer gehabt.

Helga Fitzner: Da ist für die eigene Position der Kinder als Opfer, Sie bevorzugen den Begriff Kriegsverletzte, kein Raum.

Curt Hondrich: Nein, wegen der Opfer des Holocausts gab es guten Grund, den Mund zu halten. Man hatte zu funktionieren. Der Raum für mein Erleben als Kriegskind war nicht vorhanden, ich konnte mit meinen Verletzungen nirgendwohin. Die wurden abgespalten und verdrängt. Und es wurde weitergemacht. Solange man in der Gesellschaft funktionieren kann, geht das auch ganz gut. Solange ich Aufgaben habe, solange ich „Ranklotzen“ kann, geht das. Das hat diese Generation gemacht. Die ältere Generation hat nach dem Krieg aufgebaut, und wir Kriegskinder haben weitergemacht und konsolidiert. Das war unsere Generation, die das mit bewerkstelligt hat. Insofern hatten wir keine Zeit, über uns nachzudenken. Wollten wir auch nicht. Denn da gab es einen dunklen Bereich in uns, das hat wohl jeder von uns gespürt, an den wir nicht heran wollten, weil wir nicht wussten, was wir da finden würden. Wir hatten Angst davor, in unseren eigenen Abgrund sehen zu müssen.

Helga Fitzner: Da war auf der einen Seite der Redakteur Curt Hondrich, der erfolgreich war und funktionierte, irgendwo war aber der „kleine Curt“, der sich (noch) nicht bemerkbar machen konnte.

Curt Hondrich: Der „kleine Curt“ war irgendwo versteckt. Der hat einfach keine Möglichkeit gehabt, zu weinen oder sonst irgend etwas zu machen, um sich zu betrauern, über das, was er an Verlusten erlitten hatte, Schmerz zu empfinden. Das war vor allem der durch den Krieg bedingte Verlust an elterlicher Zuwendung. Die Mütter waren mit ihren eigenen Ängsten oder mit dem Management des Überlebenskampfes beschäftigt. Der Vater war im Krieg oder wenn er als „unabkömmlich“ eingestuft war, dann war er zwar da, aber genauso wie die Mutter für das Kind emotional unerreichbar. Die Kinder blieben sich selbst überlassen. Was Kinder aber in Situationen von Gefahr und Bedrohung vor allem brauchen, ist Geborgenheit und Schutz. Und wenn die in lebensbedrohlichen Situationen fehlen, dann kommt es zu Traumatisierungen.

SO WIRKT DIE TRANSGENERATIONALE WEITERGABE VON KRIEGSTRAUMATISIERUNGEN

Helga Fitzner: Wenn man den Schmerz über eine Verletzung nicht zulassen kann, wirkt die im Unterbewusstsein trotzdem weiter.

Curt Hondrich: Wenn ich in mir etwas nicht zulassen darf, weil es aus irgendeinem Grund tabuisiert oder verboten ist oder mich gefährdet, bin ich immer in der Gefahr, andere zu bekämpfen, die genau das tun, was ich mir selbst verbiete. Ich projiziere meine eigenen Verbote auf andere. Denn was ich nicht tun darf, soll auch kein anderer dürfen.

Helga Fitzner: Selbst bei einem so banalen Beispiel, wie „Rasen betreten verboten“. Sobald jemand auf den Rasen geht…

Curt Hondrich: … jagt man den sofort runter. So funktioniert das. Und wenn das, was bei den Erwachsenen in ihrem Inneren verschlossen bleiben muss, weil sie sich davor fürchten oder damit nicht fertig werden, wenn das ohne Erklärungen, also sprachlos auf ihr Kind übertragen und dort sozusagen als Containment eingebettet wurde, dann hat man es dem Kind „introjiziert“. Ein Introjekt ist ein in sich abgeschlossenes Muster, das in das Kind implantiert worden ist. Dann gibt es da etwas, was in diesem Kind vorhanden ist und in ihm wirkt, das das Kind aber nicht versteht. So funktioniert eine Trauma-Entlastung, wenn die Eltern ihre Traumata nicht bewältigt und nicht therapiert haben. Diese Traumata werden in Form von Introjekten in den Kindern platziert.

Helga Fitzner: So werden unbearbeitete Traumata von Generation zu Generation weitergegeben.

Curt Hondrich: Genau. So funktioniert transgenerationale Weitergabe. Die Kinder tragen die Lasten ihrer Eltern, die sie nicht verstehen, aber tragen.

Helga Fitzner: Entweder sie verteidigen den Rasen oder sie zerstören ihn.

Curt Hondrich: Vereinfacht gesagt ist das so. Was die 1968-er Generation gemacht hat und vor allem die RAF, war einerseits eine Befreiung, weil ein öffentlicher Diskurs über das Dritte Reich in Gang gesetzt wurde, gleichzeitig waren aber die damit verbundenen Aggressionen sehr wohl begründet in den Introjekten dieser jungen Menschen. Das spielt beides eine Rolle. Da kommt etwas nach oben und wird rationalisiert, damit man es packen kann. Es wird also nach außen in die Gesellschaft getragen, doch im Bauch findet sozusagen noch ein ganz anderer Kampf statt. Das ist der Kampf gegen die Eltern auf der einen und gegen die von ihnen ererbten Introjekte auf der anderen Seite. Dieser innere Kampf wird aber nicht ausgetragen. Rudi Dutschke, der bekannteste Wortführer der 68-er Studentenbewegung, war zu Hause lammfromm.

Helga Fitzner: Klar. Die eigenen Eltern werden unter allen Umständen geschützt.

Curt Hondrich: Genau. Die Kinder hatten während des Krieges entweder keine Eltern, weil sie evakuiert waren, oder nur inkomplette Familien. Bei denen, die Glück hatten, kam nach dem Krieg der Vater wieder nach Hause, da war die Familie wieder komplett.

Helga Fitzner: Der Vater war aber nicht mehr der selbe.

Curt Hondrich: Die Familie musste sich auf diesen veränderten Vater einstellen – und der Vater auf die veränderte, selbständig gewordene Mutter. Jetzt findet zwar eine andere Familienkonstellation statt, aber für das Kind ist das familiäre Dreieck, die Triangulierung, die das Kind braucht, wieder komplett. Und es wird einen Teufel tun, das in Frage zu stellen.

Helga Fitzner: Wie der lammfromme Rudi Dutschke.

Curt Hondrich: Rudi Dutschke geht auf die Straße, kämpft öffentlich gegen die Elterngeneration und zu Hause ist er der brave Sohn. Erst als die Eltern ihm Vorwürfe wegen seiner Aktionen machten und sie ablehnen, geht er nicht mehr nach Hause. Auch die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin ist von ihrem Vater sozusagen gedeckt worden. Sie hat stellvertretend für ihren Vater gehandelt. Das könnte man ein klassisches Introjekt nennen.

Helga Fitzner: Gudrun Ensslins Vater war Pfarrer.

Curt Hondrich: Der „fromme“ Pfarrer durfte und konnte nicht handeln, wie er vielleicht gerne gewollt hätte, nämlich seine ganze Wut und seinen Hass rauslassen. Er hat alles seiner Tochter introjiziert. Die hat dann gehandelt. Er hat dieses Handeln mit Sympathie begleitet. Bis zu einem gewissen Punkt. Als ihr Protest dann umkippte in pure Gewalt, konnte er ihr nicht mehr folgen. Nun verurteilte er, was er sich selbst verbieten musste.

Helga Fitzner: Aber man kann dem Vater von Gudrun Ensslin nicht vorwerfen, dass er das bewusst gemacht hat.

Curt Hondrich: Auf gar keinen Fall. Niemand macht das bewusst. Man kann den Eltern keinen Vorwurf machen. Sie sind vermutlich selbst mit Introjekten von ihren Eltern ausgestattet. Introjektionen, Abspaltungen, Verdrängungen, das sind Schutzmechanismen der Seele, um überleben zu können. Es ist gut, dass wir diese Mechanismen haben.

Helga Fitzner: So werden die Traumatisierungen oft unbemerkt an die Generation der Kriegsenkel weitergegeben, das sind die Kinder der Kriegskinder.

Curt Hondrich: Wenn es sich um ein klassisches Introjekt handelt, das von den Eltern oder Großeltern platziert worden ist, dann ist das ein dunkler Fleck, den das Kind nicht begreifen kann. Ich spüre da etwas in mir, ich verstehe es aber nicht und deswegen habe ich Angst, daran zu rühren. Ich weiß ja nicht, was dann passiert. Also versuche ich das Fremde zu unterdrücken. Es bleibt aber und bestimmt unterbewusst mein Handeln weiter. Ich kann es ja nicht auslöschen. Ich habe bei einer Tagung neulich neben einer Psychoanalytikerin gesessen, die meinte: „Rühren Sie da nicht dran, dann passiert auch nichts“. Da bin ich in die Luft gegangen: Natürlich passiert etwas, laufend passiert etwas, es bestimmt unser Handeln. Wenn wir es nicht anpacken, passiert es immer weiter. Dass wir immer noch Krieg als Mittel für Konfliktlösungen empfinden und tatsächlich auch praktizieren, hat damit zu tun, dass wir nicht gelernt haben, mit Krieg fertig zu werden, weil er in uns ist. Von Generation zu Generation sind die Verletzungen, die durch die Kriege entstanden sind, weitergegeben worden. Und Gewalt als Mittel zum Zweck ist uns darum sehr vertraut.

Helga Fitzner: Sie haben uns damals ziemlich aufgewühlt, als Sie uns in unserem Themengottesdienst zur vergessenen Generation (2010) erklärten, dass die transgenerationale Weitergabe von Traumata in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1648) ohne Unterbrechung so geschehen ist.

Curt Hondrich: Ja, das ist richtig. Jede Generation ist seitdem in irgendeiner Weise durch Krieg betroffen gewesen und hat diese schlimmen Erfahrungen oft unbearbeitet weitergegeben.

Helga Fitzner: Wir hatten im Nachkriegsdeutschland rund 65 Jahre keinen Krieg (Stand: 2010) auf unserem Boden. Kann es sein, dass die Generation der Kriegsenkel dadurch eine gute Chance hat, diesen Jahrhunderte währenden Kreislauf zu durchbrechen?

Curt Hondrich: Sicher haben wir eine Chance. Nicht politisch. Politisch haben wir einen Schritt zurück gemacht. Krieg ist für uns wieder ein Mittel der Politik geworden, seit das Gleichgewicht des Schreckens zwischen Ost und West verschwunden ist. Dabei ist die gleiche Kapazität an atomarer Sprengkraft immer noch da.

Helga Fitzner: Wir haben seitdem einen neuen Feind, den Islam.

Curt Hondrich: Ja, der Islam ist jetzt der Feind, der den US-Amerikanern und ihren Verbündeten im Osten verloren gegangen ist. Genau so. Insofern stehen die politischen Chancen schlecht. Gesellschaftlich sehe ich aber eine Chance. Nachdem die Kriegskinder-Generation über 60 Jahre lang funktioniert hat und jetzt im Ruhestand ist, gibt es nichts mehr zu funktionieren. Nun begegnen sich auf einmal der alte Mensch und das verletzte Kind in ihm. Die Verletzungen brechen jetzt auf, weil im Alter die sogenannte Ich-Kontrolle nachlässt. Ich kann also nicht mehr so gut kontrollieren, was da in mir an Emotionen frei wird, und die Kraft, die Emotionen einfach weg zu drücken, lässt nach. Was dann oft hochsteigt, sind Erinnerungsbilder aus der Kindheit. Da beginnt bei vielen ein großes Erschrecken.

PSYCHISCHE VERLETZUNGEN KÖNNEN NICHT EINFACH AUSGELÖSCHT WERDEN

Helga Fitzner: Kann man sich, wenn das einmal an die Oberfläche gelangt ist, dagegen wehren?

Curt Hondrich: Nein, Sie können sich nicht dagegen wehren. Sie werden plötzlich von etwas bestürmt, von dem Sie dachten, es wäre gar nicht da. Aber Sie hatten es nicht vergessen. Bei den meisten wird das Bedürfnis groß, darüber zu reden. Dadurch hat seit ein paar Jahren ein gesellschaftlicher Diskurs über die Traumatisierung der Kriegskinder-Generation begonnen. Da in den europäischen Nachbarländern Ähnliches stattfindet, ist dieser Dialog wichtig auch für die Zukunft und für die Einheit Europas.

Helga Fitzner: Es gibt auch Stimmen, die meinen, dass diese „leidige“ Diskussion doch endlich einmal aufhören müsse.

Curt Hondrich: Nein. Die geht leider nicht vorbei. Wir haben es nun einmal, weil wir selber damit nicht fertig werden konnten, unseren Kindern weitergegeben – wohl bemerkt unbeabsichtigt und unbewusst – und nun geht es bei den Kindern weiter. Die sehen manchmal Bilder im Fernsehen, die etwas in ihnen auslösen, was sie gar nicht zurück verfolgen können. Wenn sie Glück haben, leben die Eltern und Großeltern noch und können erzählen. Deshalb ist die Traumaforschung mit der Generation der Kriegskinder, die wir fördern wollen, so dringlich, denn die Generation stirbt allmählich weg. Wir wissen von der psychosomatischen Medizin, dass sich Traumatisierungen auch auf die Organe auswirken können, so dass bei Traumatisierten z. B. Herzkrankheiten signifikant erhöht sind. Insofern hilft es, dass wir mit dieser Generation reden, und dass wir die Erfahrungen dieser Generation festhalten. Deswegen baut unser „Förderverein Kriegskinder für den Frieden“ ein Kriegskinder-Archiv auf, für das wir jetzt bei der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg eine Heimstatt gefunden haben und für das wir dringend Sponsoren brauchen.

Helga Fitzner: Bekommt man die Traumata mit Erzählen denn „weg“?

Curt Hondrich: Man kann sich nicht davon befreien. „Mach weg“, geht nicht. Psychische Verletzungen können nicht gelöscht werden wie eine Festplatte. Es sind Wunden in der Seele, die dauerhafte Narben hinterlassen, die im Gehirn nachweisbar sind. Man kann aber den Mut aufbringen, sich diese Narben anzuschauen. Es gibt Therapien, die den Patienten lernen lassen, mit den Verletzungen zu leben und zu akzeptieren, dass er ist, wie er ist. Er lernt sein Verhalten zu ändern, er lernt mit seinen Narben zu leben. Wenn der Therapeut den historischen Ort kennt, woher die Verletzung stammt, dann kann er das traumatisierende Ereignis lokalisieren und herleiten. Es bleibt aber ein Teil des Patienten, mit dem er leben und gesund werden kann. Das ist dann wie eine Narbe, die verheilt ist: Sie ist da, manchmal kann sie noch weh tun, aber man kann mit ihr leben.

Helga Fitzner: Das klingt aber nicht sehr aussichtsreich.

Curt Hondrich: Man kann mit den Kindern reden, damit sie die Verletzungen der Eltern und damit sich selbst verstehen lernen. Wenn sie das ererbte Ereignis einordnen können, haben sie die Möglichkeit, sie sich anders zu verhalten und besser mit sich zurecht zu kommen.

Helga Fitzner: Das heißt, die Verletzung bleibt. Als Sie als Kind von den Tieffliegern bombardiert wurden, war der verlorene Schuh wichtiger als die Befindlichkeit des kleinen Jungen.

Curt Hondrich: Das ist heute doch nicht anders. Denken Sie nur an den Kratzer am neuen Auto. Da ist die Sache wichtiger als die Person. Wir haben durch die Traumatisierungen doch vielfach unsere Fähigkeit zur Empathie eingebüßt, können nicht nachfühlen, was in anderen Menschen, insbesondere in Kindern vorgeht. Wir können aber durchaus nachempfinden, wenn das Auto eines anderen zu Schaden gekommen ist.

Helga Fitzner: Aber Sie haben es doch irgendwie „geschafft“.

Curt Hondrich: Ich kann mein Verhalten nur ändern, wenn ich meine „Macke“ kenne. Erst wenn ein Kriegstraumatisierter ein Verhältnis zu seinem Trauma bekommt, ist er zur Empathie fähig. Ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur Gesundung ist, dass wir lernen unsere Verluste und unsere Verletzungen zu betrauern. Wenn wir nicht trauern, können wir nicht lernen, das zu Betrauernde zu „ver-schmerzen“. Der Verlust, die Verletzung bleiben uns erhalten, aber wir lernen mit dem Schmerz zu leben. Wenn wir das nicht tun, dann wissen wir nicht anders damit umzugehen, als in unserem Schmerz Krieg und Gewalt immer wieder neu entstehen zu lassen.

Helga Fitzner: Sie waren im Mai 2010 bei einer Begegnung in Israel. Welche Erkenntnisse bringen Sie von da mit?

Curt Hondrich: Die Traumatisierung der deutschen Kriegskinder und Holocaust-Opfer sind bedingt vergleichbar. Strukturell gesehen sind sie ähnlich, inhaltlich aber nicht. Bei beiden Gruppen handelt es sich um Verletzte, aber der psychohistorische Ort ist ein anderer. Die einen waren schutzlos dem Irrsinn des Bombenkrieges und der Vertreibung ausgeliefert. Die anderen wurden individuell gejagt, gequält und in permanenter Todesfurcht gehalten.

Helga Fitzner: Der psychohistorische Ort ist der Ort, wo eine Traumatisierung ursprünglich herkommt. Habe ich richtig verstanden, dass bei Introjekten der psychohistorische Ort nicht bei mir zu finden ist, sondern in der Eltern- oder Großelterngeneration?

Curt Hondrich: Ja, genau. Und bei denen ist es die historische und individual-geschichtliche Situation, in der die Traumatisierung stattgefunden hat.

Helga Fitzner: Würde die Bearbeitung der Traumata Veränderungen bringen?

Curt Hondrich: Das würde alles aufweichen. Denn wenn wir die transgenerationale Weitergabe der Kriegstraumatisierung stoppen, wäre eigentlich kein Krieg mehr notwendig. Dann wäre die Politik in Deutschland, in Afghanistan, im Irak, im Sudan, in Israel eine andere. Es wäre leichter vorstellbar, dass die Überbrückung politischer Gegensätze, dass Verständigung auch ohne Gewalt möglich ist.

Das Interview führte Helga Fitzner am 1. September 2010

 

Kleines Glossar von Fachausdrücken

Trauma
"Die traumatische Realität überrennt die Abwehr des Ichs und seine adaptiven Ressourcen, bringt immer Hilflosigkeit, automatische Angst und eine Regression auf archaische Ich-Funktionen mit sich. Durch die Angst wird der seelische Schutzschild durchbrochen, der Organismus durch nicht zu bewältigende Quantitäten von Erregungen überflutet, wodurch das Ich in einen Zustand völliger Hilflosigkeit gerät. Das zufällige grausame Faktum bricht in das Leben der Menschen ein. Die biologische Kampf/Flucht-Reaktion ist blockiert und liefert den Menschen einem traumatischen, je nach Dauer progressiv sich zuspitzenden Zustand aus (Krystal 1988). Das hilflos überwältigte Ich gibt auf, Schmerz und Affektüberflutung werden blockiert, eine psychische Lähmung mit einer progressiven Blockade mentaler Funktionen tritt ein. Darin liegt auch die Ursache für später auftretende psychogene Amnesien."
(Definition nach Werner Bohleber, Psychoanalytiker in Frankfurt/M.)

Transgenerationale Weitergabe von Traumatisierungen
Die unbewusste und unbeabsichtigte Weitergabe von Traumatisierungen an die Kinder wird als transgenerationale Weitergabe bezeichnet. Es ist ein Mechanismus, der einsetzt, wenn eigene Traumatisierungen nicht erkannt und bearbeitet werden können. Im Falle von Kriegstraumatisierungen kann das ganze Generationen betreffen.

Introjekte
Das Wort Introjekt verweist auf einen Vorgang, auf introjizieren, es ist ein psychischer Vorgang, durch den etwas von außen nach innen genommen wird. Introjekte sind wie „ungebetene Gäste“, sagt der Psychoanalytiker Behland, d.h. sie kommen von außen, und man hat sie in den eigenen Innenräumen sitzen, ohne es gewollt zu haben. Introjekte verweisen auf ein Beziehungsgeschehen, und zwar auf eines mit zwei Beteiligten, die in einer Macht- und Abhängigkeitsbeziehung sind, wie die zwischen Kind und einer wichtigen erwachsenen Bezugsperson. Das Kind, das in dieser Konstellation wenig Handlungsspielraum hat, d. h. es kann sich nicht wehren und die Situation im Außen verändern, kann unverarbeitete, bedrängende, beängstigende Aspekte des anderen nur schlucken, d. h. nach innen nehmen. Je jünger das Kind und/oder je unfertiger und unabgegrenzter der psychische Apparat ist, um so eher werden in einer Situation der Abhängigkeit, bedrängende Aspekte des erwachsenen Gegenübers direkt in die Psyche aufgenommen und bilden dort jene Introjekte, womit psychische Inhalte gemeint sind, die wie Fremdkörper wirken, die das Subjekt behindern, lähmen und die eine vielfältige Symptomatik nach sich ziehen können.
(Definition nach Edda Uhlmann, Psychoanalytikerin in Hamburg)

Psychohistorie
Schon Sigmund Freud hat die Psychohistorie beschrieben. Unverarbeitete frühkindliche Traumata sind oft die Ursache von seelischen und körperlichen Problemen beim Erwachsenen. Deshalb werden historische Einflüsse aus der unmittelbaren oder ferneren Vergangenheit bei der Behandlung mit berücksichtigt. Dazu können zählen u. a. Erziehungskonzepte wie die von Johanna Haarer, die antiautoritäre Erziehung oder der Einfluss von Kriegs- oder längeren Friedenszeiten auf die Entwicklung eines Menschen sowie jegliche Art von gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Begebenheiten, die einen Menschen bzw. dessen Generation geprägt haben. Die Psychohistorie ist ein therapeutisches Mittel zum besseren Verstehen der Herkunft der Probleme des Patienten.

Zusammengestellt von Helga Fitzner



 

Weitere Informationen

*) Curt Hondrich (1939 – 2015) war ein Theologe, Journalist und Autor, der u. a. für die WDR-Kultur-Redaktion arbeitete. Er ging im Jahr 2003 in den Ruhestand und widmete sich zunehmend dem Thema der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumatisierungen, für das er entbrannt war. Er war Mitbegründer und 1.Vorsitzender von „Kriegskinder e.V. – Forschung Lehre Therapie“. 2011 war er Herausgeber von „Vererbte Wunden. Traumata des Zweiten Weltkrieges“ und 2012 von „Über den mühsamen Weg aus der Gewalt – Wurzeln und Folgen von Aggression und Krieg“.

Kriegstraumata I – Interview mit Hans Mörtter

Kriegstraumata III – Themengottesdienst mit Hans Mörtter und Curt Hondrich