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Der Dreißigjährige Krieg prägte die Haltung der Deutschen - Kriegstraumata III

Gespräche über Kriegstraumata mit Curt Hondrich und Hans Mötter / Foto: Helga Fitzner
Gespräche über Kriegstraumata mit Curt Hondrich und Hans Mötter / Foto: Helga Fitzner

Der Journalist und Theologe Curt Hondrich *) hat sich auf die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen spezialisiert. Diese gehen bis zum Dreißgjährigen Krieg (1618 -1648) zurück und sind Gegenstand eingehender Forschung. In einem Themengottesdienst am 4. Mai 2014 in der Lutherkirche, sprach er mit Pfarrer Hans Mörtter darüber.
 

von
Helga Fitzner

Hans Mörtter: Ich weiß gar nicht mehr, wann genau Curt Hondrich und ich uns das erste Mal begegnet sind. Das muss über 20 Jahre her sein und lief irgendwie über gemeinsame Freunde. Durch unsere Aktivitäten kamen wir thematisch immer wieder miteinander in Berührung und über die Jahre ist Curt zu einem Freund und Berater für mich geworden. Curt Hondrich war u. a. Edelgestein des WDR. – Curt, ich freue mich sehr, dich heute hier begrüßen zu dürfen. Du wurdest 1939 kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Köln geboren und sprachst davon, wie du mit zwei Jahren schon geprägt wurdest: „Wir waren dabei, wir haben den feuerroten Himmel mitbekommen und wie die Fallschirmjäger vom Himmel fielen und in der Luft abgeschossen wurden.“ Das wird einfach so erzählt, als ob nichts wäre.

Curt Hondrich: Das sind die Bombennächte in Köln, die 1941 begannen und 1942 noch stärker wurden. Die Flächenbombardements dieser Stadt kennen wir alle, wir alle kennen die Fotos von der zerstörten Innenstadt, von der nur noch ungefähr zehn Prozent übrig war. Das war der Start in mein Leben. Der Krieg hat mich sozialisiert und die Angst meiner Eltern, die Angst der Erwachsenen um mich herum, in den Luftschutzkellern, wo niemand sich mehr verstecken konnte. Wenn die Erde wackelt, wenn es rundherum brennt, dann gibt es kein Verstecken mehr. Kinder sind sehr genaue Beobachter. Sie müssen nicht erzählt bekommen, was passiert. Sie sehen es. Vor allen Dingen sehen sie es an den Eltern. Was da passiert, prägt sie dann für ihr Leben. Angst ist ein fester Bestandteil meines Lebens geworden. Ich habe mein Leben lang, ohne es eigentlich zu wissen – später habe ich es dann gewusst – damit verbracht, diese Angst in Schach zu halten und ihr die Hoffnung entgegenzusetzen.

Hans Mörtter: Deutschland ist nach wie vor ein kriegstraumatisiertes Land. Aber ein wenig sind wir schon aufgewacht, weil wir angefangen haben zu reden. So richtig los ging es bei uns mit dem Irakkrieg. Das war der Umbruch in unserer Gemeinde, wo unsere Senioren und Seniorinnen anfingen und sich trauten zu reden.

Curt Hondrich: Allgemein ging es los beim Irakkrieg 1990/91, als im Ruhrgebiet Psychoanalytiker und Soziologen mit Erstaunen feststellten, dass auf einmal in den Läden richtiggehende Hamsterkäufe stattfanden und es Tage gab, an denen in den Läden dort nichts mehr zu bekommen war. Da haben die sich gefragt, was eigentlich los ist, und festgestellt, dass das entweder Leute waren, die aktiv am Krieg beteiligt waren oder Kriegskinder. Die versorgten sich mit Lebensmitteln, weil sie aus zunächst unerfindlichen Gründen Angst bekamen. Da ging es allmählich los, dass diese Generation wach geworden ist und zu reden anfing.

Hans Mörtter: Während des ersten Irakkrieges haben wir weiße Laken als Friedenszeichen aus den Fenstern gehängt. Zu mir kamen Kinder, Grundschulkinder, die mir erzählten, dass wir aus dem Irak angegriffen werden. Was wir denn tun sollen, wo wir hingehen können, wenn die Raketen aus dem Irak in Deutschland und in Köln explodieren. Ich wunderte mich, woher die Kinder das hatten. Wo kam die Angst her, dass der Irak unter Saddam Hussein Deutschland mit Mittelstreckenraketen erreichen und bombardieren könnte. Diese Angst war da und die ist gesät worden.

Curt Hondrich: Die war da. Natürlich. Es ist ein Phänomen, dass, anders als in anderen europäischen Ländern, in Deutschland eine sehr große Egozentrik vorhanden ist. Das ist deutlich geworden, als die Katastrophen in Fukushima geschahen, wo rundherum in den ausländischen Zeitungen berichtet wurde, wie die japanische Bevölkerung leidet. In Deutschland wurde Fukushima zum Anlass genommen, über die Atomkraft zu reden und darüber, dass wir die Kernkraftwerke abschalten müssen. Fukushima war für uns ein Grund, uns gefährdet zu fühlen. Da müssen wir uns die Frage stellen, was bei uns los ist, dass wir uns existentiell bedroht fühlen, wenn anderswo etwas geschieht. Das hat eine sehr lange Geschichte.


Hans Mörtter: Curt, du weißt das. Mich beschäftigen sehr stark die Flüchtlinge, die heute zu uns kommen. Wie gehen wir mit denen um? Mich bedrückt die Gefühllosigkeit gegenüber diesen Menschen und ihren Geschichten, die wir gerade in Deutschland doch kennen sollten. Und das führt uns zum Thema des heutigen Gottesdienstes: Wir wollen über die transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen sprechen. Viele Kinder von Kriegstraumatisierten sind ohne Zärtlichkeit aufgewachsen. Ich habe erlebt, dass Töchter nach dem Tod ihrer Mütter diesen verzeihen konnten und damit selber wieder frei für ihr eigenes Leben wurden. Sie haben angefangen, die Erstarrung der Mütter zu verstehen, die der eigentliche Grund für die Gefühllosigkeit gegenüber den Kindern war. Du bist einer derjenigen, die darauf aufmerksam machen, dass die Kriegstraumatisierung ein wichtiges Thema ist und dass sie nicht erst im Zweiten Weltkrieg angefangen hat. Das große Drama Europas, insbesondere Deutschlands, ist der Dreißigjährige Krieg (1618 – 1648).

Curt Hondrich: Gewalt und wie auf Gewalt reagiert wird, ist ein entwicklungsgeschichtliches Thema der Menschheit. Dass Gewalt wieder Gewalt hervorruft, war in den urmenschlichen Horden schon so. Aber in den modernen Kriegen hat das Formen angenommen, die kaum noch zu verkraften sind. Trauma wird definiert als ein psychisches Geschehen oder ein Geschehen außerhalb von mir, das so gewaltig ist, dass ich keine innere Abwehr mehr dagegen habe und dass dieses Geschehen mich dann überrollt. Das ist die Traumatisierung, ich bin diesem Geschehen schutzlos ausgeliefert und habe keine andere Möglichkeit mehr, als das zu verdrängen – und zum Glück sind wir so eingerichtet, dass das geht. Es gibt eine psychogene Amnesie, die uns bestimmte Geschehnisse einfach vergessen lässt. Damit sind sie für unser Bewusstsein und die Bewältigung unseres Alltages vergessen. Das ist ein überlebenswichtiger Schutzmechanismus, aber die Geschehnisse sind trotzdem noch vorhanden, wirken unterschwellig und bestimmen unser Verhalten. Der Dreißigjährige Krieg hat vorwiegend auf deutschem Boden stattgefunden, denn die anderen Beteiligten, wie die Schweden, Polen und Franzosen, kamen von außen nach Deutschland herein. Da muss man sich mal klar machen, dass der Jahrzehnte währende Krieg damals in Deutschland fünfzig Prozent der Bevölkerung umgebracht hat, in einigen Regionen sogar zwei Drittel.

Hans Mörtter: Es gibt keinen Gott. Es gibt keinen Sinn, war die Botschaft.

Curt Hondrich: Es gab gar nichts, Hans. Das Ganze allerdings im Namen Gottes, nämlich der verschiedenen Konfessionen, der Katholiken und der Protestanten. Das war der Dreißigjährige Krieg und der hat das Urtrauma in diesem Land hier verursacht. Seitdem sind wir gezeichnet. Für den Sozialphilosophen Norbert Elias steht fest, dass der Dreißigjährige Krieg „permanente Spuren im Habitus der Deutschen“ hinterlassen hat. Nun hat es nach dem Dreißigjährigen Krieg immer wieder Scharmützel zwischen den Königs- und Herzogtümern in Deutschland gegeben. Dann gab es den großen Napoleonischen Krieg, dann gab es die deutsch-französischen Kriege, dann gab es den Ersten Weltkrieg. Das heißt, dass zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg jede Generation einen Krieg erlebt hat. Die Traumatisierungen, die damals aus Unkenntnis nicht thematisiert werden konnten, stapelten sich eine auf die andere und wurden weitergereicht von Generation zu Generation, so dass wir durch unsere Vorfahren so zu sagen „wohl vorbereitet“ in den Ersten und später in den Zweiten Weltkrieg gezogen sind.

Hans Mörtter: Zum Ersten Weltkrieg empfehle ich das Buch „Die Schlafwandler – Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ des australischen Historikers Christopher Clark. Das ist ein sehr spannendes, gut geschriebenes Buch, das einen nicht los lässt. Es räumt mit vielen Vorurteilen auf und zeigt die Komplexität des damaligen Geschehens. Clark glaubt, dass sich das, in abgeänderter Form, jederzeit wiederholen kann. Erschreckend war im Juli 1914, dass alle beteiligten Länder von der Unausweichlichkeit eines kommenden Krieges ausgingen. Kein einziger wollte wirklich diesen großen Krieg. Gleichzeitig saß in den Köpfen fest, dass er in ein paar Jahren so und so kommen würde: Also machen wir es jetzt. Da kommen wir günstiger weg. Wenn wir noch ein paar Jahre warten, sind die anderen noch stärker, dann fließt noch mehr Blut.

ÜBER DIE (NICHT)-BEWÄLTIGUNG VON SCHAM

Curt Hondrich: Es ist inzwischen historisch gesichert, dass das bei allen beteiligten Nationen in Europa so war. Die Deutschen haben dann den Entschluss gefasst: Jetzt machen wir los, vielleicht verschafft uns das einen Vorteil. Die Deutschen haben dann diesen Krieg begonnen. Das ist unzweifelhaft. Aber die Idee der Kriegsbereitschaft und der Unausweichlichkeit dieses Krieges, die war in allen Köpfen und in allen Ländern. Das war in einer Zeit, in der es Reichtum gab. Es lag nicht daran, dass irgendwo Mangel herrschte und aus wirtschaftlichen Gründen ein Krieg herbeigeführt werden sollte, sondern die Nationen waren gut saturiert. Es gab keinen existentiellen Grund dafür. Es war ein Krieg, der auf eine merkwürdige Weise unausweichlich war. Wenn man nun diese traumatische Traditionskette sieht, die es bei uns gegeben hat, und weiß, dass Traumata vor allem ein Anlass sind, sich zu schämen, versteht man, dass zum Beispiel vergewaltigte Frauen meist nicht damit an die Öffentlichkeit gehen, weil sie sich schämen. Dieser Schamvorbehalt, verbunden mit dem Trauma, macht es so schwierig, die Geschichte öffentlich zu verhandeln. Über Scham spricht man nicht. Über Scham geht man hinweg und es gibt sehr viele Strategien, mit Scham umzugehen. Eine Strategie ist, nach außen zu gehen und eine Dominanz anderen gegenüber zu zeigen. Das hat ganz stringent nach dem Ersten Weltkrieg begonnen. Da war die Beschämung der Deutschen ganz groß, denn sie hatten auf das große Kaiserreich gesetzt und auf dessen Wohlstand, und nach dem Krieg brach alles zusammen, worauf sie gehofft hatten. Das betraf vor allem die jungen Männer mit 16, 17 Jahren, die mit fliegenden Fahnen in den Krieg marschiert sind. Das war eine vaterländische Tat und kein Mensch hat daran gedacht, dass ihm was passieren könnte, und alle hielten sich für unverwundbar. Sie sind in diesen Krieg gegangen und gestorben wie die elenden Ratten. Die sind abgeknallt worden, vergiftet worden, bombardiert worden. Es hat eine Feindpropaganda gegeben, wie es sie vorher noch nie gegeben hatte, in der der Feind, der Gegner entmenschlicht und deswegen zum beliebigen Objekt wurde. All das hat sie zerstört. Diese Deutschen kommen geschlagen aus diesem Krieg zurück, hungrig, verwundet, verletzt und vor allen Dingen gedemütigt. Danach wurde der Versailler Vertrag beschlossen, der dem Ganzen noch einmal politisch eins daraufsetzte und die Deutschen demütigte. Die durften den Vertrag ja nicht mal mit aushandeln, sie durften nur anschließend unterschreiben. Das führte dazu, dass dieses Land gekränkt war bis in die Knochen.

Hans Mörtter: Krieg war schon immer eine unglaubliche Abschlachterei. Die Menschen haben erlebt, dass sie keine Individuen mehr sind, sondern nur eine Fleischmasse. Sie wurden immer neu da hinein getrieben und haben ihre Identität verloren. Diejenigen, die zurück kamen, haben dann ihre Kinder erzogen.

Curt Hondrich: Genau im Sinne von „Ein Junge weint nicht“, „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Das war die Pädagogik der Johanna Haarer, die damals das Buch geschrieben hat: „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“, das für eine ganze Generation von Müttern die Bibel war, nach der sie lebten. Die Kinder wurden so erzogen, dass die möglichst früh von der Mutter getrennt wurden, dass sie nur nach einem bestimmtem Zeitplan zur Mutter durften und die Mahlzeiten bekamen, und wenn das Kind schrie, dann ließ man es eben schreien. „Das stärkt die Lungen und macht das Kind nur stärker.“ Wir wissen natürlich heute, dass diese Art von Pädagogik genau das Gegenteil davon erreicht, starke und unabhängige Persönlichkeiten zu erziehen. Es werden schwache Menschen erzogen, die manipulierbar sind. Das ist auch ein Teil der Versuchungsgeschichte des deutschen Volkes. Die erste Versuchung war das Kaiserreich mit dem Bild des Deutschen, der den anderen überlegen ist, weil er der Tüchtigere war, und die zweite Versuchung war die durch die Nationalsozialisten. Deren Herrenmenschentum schien die Befreiung aus der Scham und die Befreiung aus dem Trauma.

Hans Mörtter: Die brauchten andere, die sie beschämen konnten. In dem Fall waren das die Juden und die so genannten minderwertigen Rassen.

Curt Hondrich: Insofern war das ein in sich schlüssiger Vorgang, der dann mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands – zum Glück der Niederlage Deutschland – einbrach. Danach gab es aber wieder die Beschämung. Und was ist gemacht worden? Es ist geschehen, was bei Scham eben gemacht wird, es wurde geschwiegen, es wurde nichts erzählt. Die Kriegsgeneration erzählte nichts, die Väter, die nach Hause kamen, waren auch zum großen Teil traumatisiert, entweder durch aktive Geschichten, die sie im Krieg als Täter gemacht hatten, oder aber durch die Schrecken, die sie passiv erlebt hatten. In jedem Fall waren sie massiv traumatisiert und haben nichts erzählt. Die Kriegskinder konnten auch nichts erzählen, weil sie von den Eltern nichts über den Krieg erfuhren, und ihre eigenen traumatischen Erfahrungen blieben in ihnen verschlossen und wurden der nächsten Generation verbal nicht weiter gegeben.

Hans Mörtter: Dieses „Stell dich nicht so an“ höre ich bis heute. Den Menschen geht es schlecht, ich rede mit denen und habe eine Idee, wie sie aus dieser Situation heraus kommen, dann heißt es ganz schnell. Nee, nee ist schon gut, anderen geht es viel schlimmer. Ein tödlicher Satz: Anderen geht es viel schlimmer.

Curt Hondrich: Das Schlimme ist, dass das durch so genannte Introjekte weitergegeben wird. Womit ich als Elternteil nicht fertig werde, das gebe ich unbeabsichtigt weiter an mein Kind und implantiere das so zu sagen in die Seele meines Kindes, das damit gar nichts anfangen kann. Es erlebt da etwas, was in ihm ist, das es sich aber nicht erklären kann, weil es das gar nicht selbst erlebt hat. Es ist also das fremde Erleben, das dieses Kind in sich trägt und mit dieser implantierten Verwundung der Eltern weiterleben muss. Das ist die Art und Weise, wie Traumata weitergegeben werden, ohne dass darüber gesprochen wird. Nonverbal. Diese Introjekte sind ein Vorgang, der in der Psychoanalyse sehr bekannt und inzwischen auch sehr gut beforscht ist. Das ist die Art und Weise, wie wir alle in der Kette der Traumatisierungen und der Kette der Beschämungen die Tradition forttragen, indem wir das an unsere Kinder weitergeben, was bei uns hängen geblieben ist und mit dem wir nicht fertig werden. Die Sache ist, dass in dem Moment, in dem wir darüber reden, und das ist jetzt der Fall, dann kann es öffentlich und auch in den Familien diskutiert werden.
Nach dem Krieg hatten wir die Adenauer-Gesellschaft, die ich noch sehr gut erlebt habe. Das war eine sehr restriktive Gesellschaft, die sich im Grunde genommen in ihrer Qualität – abgesehen von der Ideologie natürlich – aber in ihrer gesellschaftlichen Qualität vom Dritten Reich wenig unterschied. Es war der gleiche Commande, es war der gleiche harte Gehorsamsstil. Es war die Unfreiheit, die für den Einzelnen da war, weil er sich an die Regeln zu halten hatte. Ein Satz, der mir nie aus dem Kopf geht, der überall stand, war „Rasen betreten verboten“. (Amüsierte Unruhe in der Gemeinde). So war die Gesellschaft damals. Diese Gesellschaft war so geworden, weil sie die Ärmel hochkrempelte und wieder aufbaute, das muss man auch sehen, und die Kriegskindergeneration nahm so zu sagen die Stafette der Eltern in die Hand und konsolidierte das, was die Eltern wieder aufgebaut hatten und die junge Generation von heute hat mit einer fertigen Welt umzugehen, von der sie gar nicht weiß, was denn hier noch zu tun ist. Vieles von der Gewalt, die wir heute erleben, hat genau damit zu tun, dass im Grunde genommen nichts mehr aufzubauen, nichts mehr zu machen ist. Da ist nichts mehr zu konstruieren. Aber man kann ja destruieren, um wieder aufzubauen. Diese destruktiven Anteile, die heute vielfach beklagt werden, haben wahrscheinlich da ihren Grund.
Die 1968-er Generation hat aus dieser Scham heraus den Aufbruch in die Schamlosigkeit betrieben. Die Kommune 1 war schamlos. Da wurde öffentlich gevögelt, das wurde zur Schau gestellt, man protzte auch damit, dass man das tat. Die freie Liebe wurde proklamiert. Es wurden Grenzen aller Art eingerissen, auch politische. Das war die Reaktion einer Jugend, die daran erstickte, die das nicht mehr aushielt. Diese Begrenzung, die durch die Scham entstanden und nicht aussprechbar war, die hielten sie nicht mehr aus und sind ins andere Extrem verfallen. Dann kam die antiautoritäre Erziehung, von der wir wissen, dass sie auch nicht das Gelbe vom Ei war, aber es war der Gegenschlag und der war offenbar nötig, um zu einer gewissen Befreiung zu gelangen. Aber über die Traumata wurde immer noch nicht gesprochen. Die Elterngeneration wurde angeklagt. Rudi Dutschke stand auf der Straße und klagte an, zu Hause war er ein ganz lieber Sohn. Er hat keinen Streit mit den Eltern provoziert. Erst als die Eltern kritisierten, was er tat, hat er das Elternhaus gemieden. Er ist nicht hin und hat den Streit zu Hause ausgefochten. Er ist nur weg geblieben und hat draußen die Elterngeneration als Abstraktum angegriffen, aber nicht die eigenen. Die Kinder, die traumatisiert sind und die nach dem Krieg zerstörte Familien vorfanden, und Kinder, die im Dreiecksverhältnis zwischen dem Elternpaar und sich selbst leben, sind daran interessiert, dass dieses Dreieck wieder zustande kommt. In dem Augenblick, wo ich dazwischen gehe und die Eltern kritisiere, zerstöre ich diese Triangulierung. Das genau durfte nicht passieren. Rudi Dutschke ist ein klassisches Beispiel dafür, wie das nicht passiert ist. Aber die Generation wurde angeklagt und befragt: Was habt ihr getan? Und das war wohl richtig so.

Hans Mörtter: Ja, Curt, und das ist weitergegangen. Umgekehrt haben dann deren Kinder irgendwann die Nase wieder so voll, dass sie konservativ werden, also wiederum das Gegenteil. Wie fremdbestimmt wir uns im Grunde verhalten. Das entspricht doch gar nicht dem, wie wir angelegt sind. Danach zu fragen, kommen wir gar nicht mehr, weil ständig re-agiert wird, verteidigt wird oder angegriffen. Oder wiederholt wird. Unter anderem eben der Krieg. Der Mechanismus des Krieges wiederholt sich permanent, so lange wir dieses Denken nicht brechen, so lange wir nicht weiter darüber reden. Ich habe kürzlich eine Frau beerdigt, deren Tochter sehr darunter gelitten hat, dass sie ihre Mutter nie richtig kennen lernen konnte. Sie weiß bis heute nicht, was für ein Mensch ihre Mutter war, weil sie nicht an sie heran kam. Warum war sie so, warum hat sie uns nicht umarmen können? Wieso gab es keine Zärtlichkeit? Und wer bin ich? Bin ich überhaupt jemand? Dieses direkte Gegenüber war nie da, es war immer eine funktionale Beziehung. Jetzt bekam sie Angst, dass sie das nicht mehr klären kann. Aber wir kriegen das geklärt. Der erste Schritt war bei ihr auch zu sehen, wie verletzt ihre Mutter war. Schade, dass man das erst beim Sterben oder beim Tod feststellt und nicht vorher schon ansetzen kann. Wir dürfen die Option Krieg nicht länger hinnehmen:

Curt Hondrich: Das ist die Verweigerung, Hans. Ich habe unlängst einen Lebensbericht eines Kriegsteilnehmers zugeschickt bekommen, das ist die Elterngeneration, der berichtet, dass sein Sohn von ihm fordert, dass er erzählt, was war. Dieser Bericht ist ein wunderbares Dokument dafür, wie sich jemand verweigert. Es geht nur darum, den Sohn mit seinen Fragen abzuwehren. Gar nicht darum, sich zu verteidigen, nur abzuwehren. Sondern ihm zu sagen, das geht dich nichts an, das ist doch nicht dein Leben. Was stellst du mir für Fragen? Das steht dir als Sohn nicht zu. Da kommen autoritäre Strukturen heraus, da kommt die Verweigerung des Redens heraus, da kommt die Verteidigung des Schweigens heraus, da kommt das Recht auf das eigene Leben und die eigene Biografie heraus, dass ich entscheide, was ich von meiner Biografie veröffentliche und was nicht. Ein sehr komplizierter Vorgang. Wenn dieser Mann stirbt, wird er einen Sohn am Grab haben, der die selbe Frage stellt, wie diese Tochter. Weil er sich verweigert hat. Er ist nicht zu knacken. Es geht nicht. Es sitzt so tief. An einer Stelle kommt mal ein Satz hoch, wo deutlich wird, dass er Täter war. Das ist die Verwundung, die in ihm ist und die er abkapselt und an die er niemanden heranlässt. Dafür schämt er sich. Das ist sehr schwer. Es gehört für die Elterngeneration sehr viel Größe dazu, zu reden und dazu zu stehen, was sie gemacht haben. Und es gehört sehr viel Empathie dazu, dass die Kindergeneration ohne Vorwurf einfach zur Kenntnis nimmt, dass dies das Leben der Eltern war. Ich möchte nicht so leben, aber sie haben so gelebt. Und ich akzeptiere sie so, wie sie waren, mit ihrer Schuld, mit ihren Verletzungen, mit ihren Verhinderungen. So kann es zu so etwas wie einer Aussöhnung kommen. Das setzt Empathie voraus und die Schwierigkeit ist, dass Traumatisierte keine Empathie fühlen können, weil sie psychisch erstarrt sind. Sie können sich ganz schlecht bewegen. Hans, du hast vorhin von Flüchtlingen gesprochen. Das ist dasselbe Phänomen. Dass wir so schlecht Empathie mit den Flüchtlingen empfinden können, hat damit zu tun, dass wir verhärtet sind und uns nicht in die Situation der anderen hineinversetzen können, weil es für uns selbst riskant ist, denn da könnte bei uns was aufbrechen. Davor haben wir Angst. Das Dunkle in uns soll dunkel bleiben. Es soll unten bleiben. Doch im Alter – das ist der Grund, warum die Kriegskinder jetzt reden – wird die Ich-Kontrolle schwächer, und durch diese geschwächte Ich-Kontrolle steigen die Traumata hoch und werden wieder wirkmächtig. Sie kommen an die Oberfläche und man kann sie nicht mehr verhindern. In Altenheimen sehen sie Fälle von schrecklichen Ausbrüchen. Ein sehr gutes Beispiel ist das Buch von Katja Thimm „Vatertage“, in dem sie schildert, wie ihr Vater im Alter zusammenbricht. Beide hatten verabredet, dass sie ein Buch über ihn schreibt, aber er bringt es kaum fertig, das zu erzählen, was erzählt werden muss, damit das Buch zustande kommen kann. Dieses Dilemma macht sehr deutlich, wie Traumatisierte unfähig sind, erstens Empathie zu empfinden und zweitens sich zu öffnen und dieses Dunkle, das in ihnen ist, hochkommen zu lassen. Dazu möchte ich anmerken, dass nicht alle Deutschen im Zweiten Weltkrieg traumatisierende Erfahrungen machen mussten, 40 bis 45 % der Zivilbevölkerung hatte das Glück, auf so etwas wie einer Insel des Friedens zu wohnen.

Hans Mörtter: Noch eine Anmerkung zu den Auswirkungen. Die grün-rote Regierung von Gerhard Schröder (1998 – 2005) wollten damals viele, und viele waren auch stolz, als Schröder eine deutsche Beteiligung am Irakeinsatz ablehnte. In dieser Zeit wurde auch unsere Flüchtlingsgesetzgebung überarbeitet und es entstanden die Hartz-IV-Gesetze. Der Grundgedanke, dass wir da was tun mussten, war richtig, aber die Umsetzung war in beiden Fällen menschenfeindlich. Sie kommt aus einer empathielosen Haltung heraus. Der Mensch wird als funktionaler Sachgegenstand betrachtet, er ist ein Problem, das gelöst werden muss. Der Mensch wird nicht als Mensch gesehen. Ich glaube, so lange wir das nicht begreifen, haben wir verloren. Da verlieren wir nämlich uns selbst.

Curt Hondrich: Ich würde gerne noch eine aktuelle Vermutung äußern. Putin mit seinen Aktionen in der Ukraine scheint mir ein klassischer Fall für einen verletzten Menschen zu sein, für einen beleidigten und gedemütigten Menschen. Er hat dem Westen gegenüber sehr viel Vorleistungen erbracht und Vertrauen investiert, das enttäuscht worden ist. Er hat gesehen, wie eine Sowjetunion unterging, an der er hing und aus der er hervorkam. Das war seine Sozialisation. Nun steht er vor dem Problem, dass er sich als der Schwächling im Osten sehen muss, dem man vom Westen aus oktroyieren kann, was er zu tun hat und was nicht. Man erweitert die NATO bis an die Grenzen Russlands, was im Vertrag ausgeschlossen war, man will Raketen zur Terrorabwehr in Polen stationieren, was die Russen, nachdem sie dreimal vom Westen aus überfallen worden sind, nicht glauben können. Es ist ganz vieles da, was Putins Reaktionen sehr gut erklärt. Ich will damit nicht sagen, dass ich es gut heiße, was da passiert und was Putin tut, ich will nur mal verstehen. Wenn ich in einen Dialog gehe, muss ich versuchen, die Gegenseite erst einmal zu verstehen. Putin reagiert nun wie jemand, der seine Scham kompensiert, sie überwindet, indem er zur Aktion übergeht und damit zeigt, dass er nicht der Beschämte ist, sondern andere zu den Schwächeren macht. Er zeigt jetzt dem Westen, dass er tun kann, was er will und der Westen kann nichts machen. Das genau ist die Reaktion, wie ein Beschämter seine Scham los wird. Das passiert im Augenblick. Wenn wir das im Westen nicht verstehen und uns mit unserer Argumentation darauf einstellen, werden wir es schwer haben, diesen Konflikt so zu lösen, dass er zu einer Befriedung führt und nicht wieder zu einem neuen Kalten Krieg. Der würde anders aussehen als der vorige, aber es würde wieder eine Verhärtung zwischen Ost und West geben. Wenn wir nicht aufpassen, ist das ganz schnell passiert. Putin würde wieder als einer der tragenden Machthaber anerkannt. Wir müssen ganz deutlich sehen, dass wir in Europa zusammen leben, auch mit den Russen. Russland gehört zu einem großen Teil zu Europa. Die gehören zu uns, auch kulturell. Wenn wir wirklich Frieden wollen, wenn wir gegenseitige Vergebung wollen, müssen wir auf den anderen zugehen und versuchen, ihn zu verstehen. Dieses Verstehen scheint mir im Westen im Augenblick wenig verbreitet zu sein.

Hans Mörtter: Wenn wir nicht miteinander reden, besteht die Gefahr, dass sich Krieg immer und immer wieder wiederholt, weil die, die durch den Krieg geschädigt sind und darunter leiden – und das ist das Perverse – diejenigen sind, die ihn wiederholen. Denn das ist das bewährte Verhaltensmuster. Gewalt kenne ich, sie gibt mir auch eine Form von Identität, also greife ich im Zweifelsfall darauf zurück. Man schätzt, dass es in Deutschland rund 13 Millionen Kriegskinder vom Zweiten Weltkrieg her gibt.

Curt Hondrich: Die UNICEF hat mal geschätzt, dass aus den Kriegen allein in den 1980-er Jahren rund 10 Millionen kriegstraumatisierte Kinder hervorgegangen sind. Das sind „nur“ die betroffenen Kinder und nur in dem Zeitraum von 10 Jahren. Was für einen Wahnsinn produzieren wir da eigentlich? – Wir dürfen die Option Krieg nicht mehr hinnehmen. Das ist der Punkt. Das ist unser Erwachsen-Werden.
Es gibt Hoffnung. Ich kenne einen Fall aus Afghanistan, wo die Europäische Union zusammen mit der Caritas International ein flächendeckendes Therapieprogramm aufgelegt hat und in ganz Afghanistan therapeutische Angebote für Traumatisierte macht. Merkwürdigerweise ist das in dieser von Männern dominierten islamischen Gesellschaft so, dass dieses Programm bei den Frauen ansetzt. Die Frauen gehen in diese Therapien. Die Frauen sind diejenigen, die in der Familie die Beschämungen aufheben können, auch die Beschämungen der Männer. Es ist ein Programm, bei dem die Frauen nach der Therapie als Multiplikatoren in die Familien zurück gehen. Ich finde das wunderbar und das macht Hoffnung.

Hans Mörtter: Lieber Curt, danke für dieses tiefschürfende Gespräch.
Redigiert von Helga Fitzner

Weitere Informationen

*) Curt Hondrich (1939 – 2015) war ein Theologe, Journalist und Autor, der u. a. für die WDR-Kultur-Redaktion arbeitete. Er ging im Jahr 2003 in den Ruhestand und widmete sich zunehmend dem Thema der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumatisierungen, für das er entbrannt war. Er war Mitbegründer und 1.Vorsitzender von „Kriegskinder e.V. – Forschung Lehre Therapie“. 2011 war er Herausgeber von „Vererbte Wunden. Traumata des Zweiten Weltkrieges“ und 2012 von „Über den mühsamen Weg aus der Gewalt – Wurzeln und Folgen von Aggression und Krieg“.

Kriegstraumata I  - Interview mit Hans Mörtter von 2010
Kriegstraumata II -  Interview mit Curt Hondrich von 2010