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Träume und Visionen scheinen ausgebombt zu sein - Kriegstraumata I

Gespräche über Kriegstraumata mit Curt Hondrich und Hans Mötter / Foto: Helga Fitzner
Gespräche über Kriegstraumata mit Curt Hondrich und Hans Mötter / Foto: Helga Fitzner

In diesem Gespräch erklärt Hans Mörtter die Hintergründe. Die „vergessene Generation“ sind die Jungen und Mädchen, die zwischen 1933 und 1945 geboren wurden und das Dritte Reich als Kinder erlebt haben. Viele von ihnen sind durch die Geschehnisse während des Krieges und in der Nachkriegszeit traumatisiert worden. Es hat fast 60 Jahre gedauert, bis diese Traumata und ihre Auswirkungen auf die folgenden Generationen in den Blick geraten sind. Hans Mörtter hat sich mehrfach mit diesem Thema beschäftigt. - Am 18. April 2010 war der Journalist und Spezialist Curt Hondrich *) das erste Mal zu einem Themengottesdienst in der Lutherkirche, der sich auf die "transgenerationale Weitergabe von Kriegstraumatisierungen" spezialisiert hat. Diese gehen bis zum Dreißigjährigen Krieg (1618 -1648) zurück und sind Gegenstand eingehender Forschung.

von
Helga Fitzner


Im selben Jahr hatte die Künstlerin Barbara Riege eine Ausstellung bei uns mit Skulpturen in der Sitzhaltung derer, die im Luftschutzkeller saßen.
Curt Hondrich hat sich auf die Forschung der Weitergabe von Kriegstraumatisierungen spezialisiert 

TRÄUME UND VISIONEN SCHEINEN AUSGEBOMBT ZU SEIN

Helga Fitzner: Herr Mörtter, seit wann gibt es das Gottesdienstformat „Vergessene Generation“?

Hans Mörtter: Das lag als Thema schon länger in der Luft. Richtig los gegangen ist es dann im Jahr 2006.

Helga Fitzner: Gab es einen konkreten Anlass dazu?

Hans Mörtter: Es war auf jeden Fall eine Reaktion auf den Irakkrieg 2003, den ich im Vorfeld schon in den „normalen“ Gottesdiensten immer wieder thematisiert hatte. Konkreter Anlass war eine Erkenntnis von unserem Gemeindeglied Brigitta Mittenzwei, die auch lange Jahre ehrenamtlich für die Lutherkirche tätig war. Die hat den Zweiten Weltkrieg erlebt und als der Irakkrieg losgeschlagen wurde, hatte sie ein Aha-Erlebnis: „Jetzt verstehe ich mich viel besser“, rief sie damals aus. Ihr war urplötzlich aufgegangen, wie sehr ihre Traumatisierung durch den Krieg über Jahrzehnte nachgewirkt hatte. Das ist ihr durch diesen neuen Krieg, in den Deutschland Gott sei Dank nicht mit eingestiegen ist, gegenwärtig geworden.

Helga Fitzner: Das betraf aber nicht nur Frau Mittenzwei!?

Hans Mörtter: Nein. Durch die ganzen Diskussionen vor und während des Irakkriegs sind unsere Seniorinnen mobil geworden. Die machten sich dann auf, ein Buch mit Kochrezepten aus der Kriegszeit zu schreiben, in dem es schon kleine Einblicke in ihre Kriegserlebnisse gab. 2005 kam das Buch „Als wir noch schön und hungrig waren – Kochgeschichten aus der schlechten Zeit“ heraus. Dieses Buch ist allerdings schon lange vergriffen.

Helga Fitzner: Entstand dann daraus die Idee zu dem Gottesdienstformat „Vergessene Generation“? (Das Format wurde inzwischen in „Kriegstraumata“ umbenannt)

Hans Mörtter: Ja, das brodelte schon einige Zeit länger, aber der Irakkrieg hat da einige Steine ins Rollen gebracht. Ich begegnete dann der Künstlerin Barbara Riege, die Figuren in Körperhaltungen herstellte, wie sie die als Kind im Luftschutzkeller erlebt hat. Mit diesen Figuren gab es eine Ausstellung in der Lutherkirche und diese Figuren waren dann auch beim ersten Themengottesdienst zur „Vergessenen Generation“ zu sehen.
 

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Die Künstlerin Barbara Riege hat die Sitzhaltungen im Luftschutzkeller nachempfunden. / Foto: Helga Fitzner

Helga Fitzner: Daraus entwickelte sich ganz natürlich, dass Zeitzeugen und Zeitzeuginnen von ihren Erlebnissen öffentlich erzählt haben.

Hans Mörtter: Ja. Das Gottesdienstformat gewährt so eine Qualität des Sich-Erinnerns, der Erinnerungskultur. Dabei hat sich ergeben, dass es nicht nur wichtig ist, sich zu erinnern, sondern auch zu reflektieren. 2010 war der Journalist Curt Hondrich zu Gast, der einen Verein gegründet hat, in dem solche Erzählungen wissenschaftlich erfasst und ausgewertet werden im Rahmen der Traumaforschung. Es weitet sich auch auf die Generation der Enkel und Enkelinnen aus, die den Krieg gar nicht erlebt haben. Es geht also weiter. Was ich mich zur Zeit frage, ist, wie ich da einen Dialog hinbekomme. Was ist den „Kriegsenkeln“ passiert, angesichts der meist schweigenden Kriegskinder?

Helga Fitzner: Man hört gelegentlich Stimmen, dass das ewig die alte Leier sei und dass das doch endlich einmal aufhören müsse.

Hans Mörtter: Das geht immer weiter, weil der Einfluss immer noch da ist. Warum gibt es in Deutschland so wenig Visionen? Warum sind wir ein traumloses Land? Dazu äußert sich keiner mehr öffentlich. Die Träume und Visionen scheinen „ausgebombt“ zu sein. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich so ein Fatalismus breit gemacht: „Das ist eben so, da kann man nichts machen.“ Da wurde nur geschaut, wie man überlebt. Zum Beispiel beim Krieg in Afghanistan. Da heißt es auch: „Das ist eben so. Es gibt eben keine andere Möglichkeit“. Curt Hondrich hat die Frage aufgeworfen: „Sind wir überhaupt noch in der Lage, eine andere Art der Konfliktlösung als Gewalt oder Krieg wahrzunehmen?“

Helga Fitzner: Wir können also überhaupt nicht mit Krieg aufhören, solange wir diese kollektive Traumatisierung nicht auflösen?

Hans Mörtter: Eher nicht. Aber warum glauben wir, dass Krieg immer noch nötig ist? Weil unsere Erfahrungen das bestätigen. „Ich bin schwach, ich kann nichts machen“. Wegen dieser Ohnmacht ist ein angstfreier Umgang mit Konflikten nicht möglich. Denn dieses Ohnmachtsmuster wird von Generation zu Generation weitergegeben. Dazu hat Curt Hondrich im Themengottesdienst erzählt, dass es uns seit dem 30-jährigen Krieg (1618 – 1648) so ergangen ist. Wir sind aus diesem Kreislauf über Jahrhunderte nicht herausgekommen, weil es in Mitteleuropa seitdem keine Generation gegeben hat, die keinen Krieg erlebte. Erst jetzt nach 65 Jahren mehr oder weniger ohne Krieg, gibt es in Deutschland eine Chance, diesen Kreislauf der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumata zu durchbrechen. Sie haben ja ein ausführliches Interview mit Curt Hondrich gemacht, in dem sehr intensiv auf diese Frage eingegangen wird.

AUS DEM RIESIGEN TRAUMA EINE FRIEDENSBOTSCHAFT MACHEN

Helga Fitzner: Es hat scheinbar in den Jahren seit dem Irakkrieg 2003 doch so etwas wie eine Entwicklung gegeben.

Hans Mörtter: Ja. Ich denke schon, dass es eine Weiterentwicklung gegeben hat. Unsere Seniorinnen sind mit ihren Kochgeschichten an die Öffentlichkeit gegangen und haben dann später – mit Ihnen als Redakteurin – das Buch „Angerichtet – Vom Überleben und Kochen in schlimmer Zeit“ nachgelegt, in dem es eine wesentlich intensivere Auseinandersetzung mit der Kriegs- und Nachkriegszeit gibt und in dem auch männliche Kriegsteilnehmer zu Wort kommen. Da ist viel freigesetzt worden. – Die Figuren von Barbara Riege würden jetzt in der Form, wie sie damals installiert wurden, nicht mehr passen. Die waren alle für sich und isoliert von einander. Heute weiß die „vergessene Generation“, dass man sich ihrer gewahr ist, dass es nicht nur um Einzelerlebnisse, sondern auch um ein kollektives Phänomen geht. Das wird mittlerweile allgemein hin wahrgenommen, ist Gegenstand weiterer Forschung und Thema vieler Veröffentlichungen in allen Medien. Damit ist das Thema im allgemeinen, gesellschaftlichen Bewusstsein angekommen und kein isoliertes Geschehen mehr.
 

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Gespräch über Kriegstraumata mit Curt Hondrich / Foto: Helga Fitzner


Helga Fitzner: Die Betroffenen sind also nicht mehr allein damit.

Hans Mörtter: Zumindest diejenigen nicht mehr, die in der Lage und willens sind, sich dem Thema zu stellen. Und dabei ist jede Erfahrung wichtig und Gold wert. Wir üben eine eingehende Kultur des Erzählens und des Zuhörens ein und es findet der Versuch einer Deutung statt. Wo bleibe ich als Hörender in dem Gottesdienst mit meinen Geschichten? Vielleicht müssten wir in Zukunft die Möglichkeit schaffen, dass alle Anwesenden sich einbringen können, dass auch für einen erweiterten Dialog Raum ist. Es soll kein statischer Gottesdienst sein.

Helga Fitzner: Kann Kirche da mehr tun, als nur reden?

Hans Mörtter: Ja. Kirchliche Organisationen wie „Brot für die Welt“ und „Misereor“ tun ganz konkret etwas, indem sie in Krisengebiete gehen und dort vor Ort Hilfe gegen Hunger und Krankheit sowie zum Wiederaufbau leisten. Dafür wird in den Gottesdiensten regelmäßig gesammelt. Gerhart Baum, der ehemalige Bundesinnenminister und unser erster Gast beim Talkgottesdienst, hat da noch ganz andere Ideen. Zum Krieg im Kongo und anderswo schlägt er vor, die Diktatoren, die am Krieg und an der Unterdrückung der Bevölkerung verdienen, zu isolieren. Er plädiert für radikale Sanktionen, Einreiseverbote solcher Politiker in möglichst alle anderen Länder und das Einfrieren sämtlicher Auslandskonten der Gewaltherrscher. Wenn es ums Geld geht, da sind sie verwundbar. Dazu muss man aber konsequent und sich einig sein und manchmal auch einen langen Atem haben. Bomben abwerfen, ginge schneller. In Zukunft sind aber ganz andere Konfliktlösungsstrategien weltweit im Miteinander gefragt. Wir brauchen ein Kodex dafür.

Helga Fitzner: Das sind aber politische und keine kirchlichen Entscheidungen.

Hans Mörtter: Nein, aber Kirche kann das fördern, indem sie auf Politiker einwirkt. Wir erleben doch in Afghanistan und im Irak, dass es nicht funktioniert. Im Libanon droht wieder ein neuer Krieg mit Syrien. Deshalb ist eine der Fragen, der wir im Gottesdienstformat „Vergessene Generation“ nachgehen, die nach dem Grund, warum wir glauben, dass das nur mit Gewalt geht. Weil unsere Erfahrungen das bestätigen. Das zementiert sich. Der Stärkere setzt sich durch. Was sind Faktoren, die Gewalt beschleunigen. Dazu gehören auch wirtschaftliche Interessen. Da geht es darum, sich dessen bewusst zu werden.

Helga Fitzner: Also geht um mehr, als die Schrecken des Krieges immer nur unreflektiert wieder aufleben zu lassen. Der Blick soll für gewaltfreie Lösungen geöffnet werden, für eine ganze Bandbreite von Menschenrechtsarbeit und friedensstiftenden Maßnahmen.

Hans Mörtter: Genau. Ich habe kürzlich den Roman „Stadt der Diebe“ von David Benioff gelesen, der in Leningrad während des Zweiten Weltkrieges spielt. Darin wird der Frage nachgegangen, wie man aus all dem Leid, das auf russischer und deutscher Seite entstanden ist, aus dem riesigen Trauma eine Friedensbotschaft machen könnte. Das hat mich fasziniert. Das geschieht schon in Japan. Die haben aus den beiden Abwürfen von Atombomben von 1949, die Friedensbotschaft von Hiroschima und Nagasaki entstehen lassen. Die reisen aktiv herum und vermitteln das weltweit. Oder hier in Deutschland die Frauenkirche in Dresden. Auch die setzen weltweite leuchtende Signale. Das entspricht doch dem Bedürfnis der meisten Menschen: „Wir wollen keinen Krieg, wir wollen etwas anderes.“

Das Interview führte Helga Fitzner am 20. Juli 2010

Weitere Informationen

*) Curt Hondrich (1939 – 2015) war ein Theologe, Journalist und Autor, der u. a. für die WDR-Kultur-Redaktion arbeitete. Er ging im Jahr 2003 in den Ruhestand und widmete sich zunehmend dem Thema der transgenerationalen Weitergabe von Kriegstraumatisierungen, für das er entbrannt war. Er war Mitbegründer und 1.Vorsitzender von „Kriegskinder e.V. – Forschung Lehre Therapie“. 2011 war er Herausgeber von „Vererbte Wunden. Traumata des Zweiten Weltkrieges“ und 2012 von „Über den mühsamen Weg aus der Gewalt – Wurzeln und Folgen von Aggression und Krieg“.


Kriegstraumata II – Interview mit Curt Hondrich
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